Die derzeitige Situation passt zum allgemeinen Zustand der CD: Plattenläden blieben bis Redaktionsschluss aufgrund der Corona-Epidemie geschlossen, der Versandriese Amazon priosiert die Lieferzeit seiner Produkte je nachdem, was am dringendsten benötigt wird: Bücher etwa sind relevant für den Lebensalltag (schnellste Lieferzeit), CDs sind es nicht (etwa eine Woche Lieferzeit). Der Relevanz von Musik tut dies keinen Abbruch, es hat aber zur Folge, dass sich der Trend zum Streaming noch einmal verstärken wird. Über verschiedene Anbieter hat man dabei mit Handy, Tablet oder PC Zugriff auf einen immensen Musikkatalog, ohne die Dateien zwingend lokal abspeichern zu müssen.
In der Popmusik funktioniert die neue Art des Musikhörens bereits prächtig: Man gibt den Album- oder Songtitel oder den Namen des Interpreten ein, und schon liegt die gewünschte Musik vor. In der Klassik gestaltet sich die Suche jedoch deutlich komplexer. Das fängt mit dem Songtitel an. Wie möchte man etwa Beethovens Klaviersonate op. 31 Nr. 2 suchen, die obendrein auch noch über die Bezeichnung Klaviersonate Nr. 17 sowie über den Beinamen „Der Sturm“ (oder gar „The Tempest“) gefunden werden will? Mal abgesehen von der Tatsache, dass nach der Suchmaschinen-Logik die drei Sätze der Sonate als einzelne „Songs“ fungieren und nicht die Sonate selbst. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass in der Klassik der Komponist eine ganz andere Relevanz hat als in der Popmusik.
Die ganze Welt der Klassik auf dem Handy
2015 stellten sich die ehemaligen Musikmanager Till Janczukowicz und Christoph Lange der Herausforderung und gründeten 2015 in Berlin das Streamingportal Idagio. Mit großem – auch personellem – Aufwand gaben sie der Vielzahl an sogenannten Metadaten klassischer Musik (Komponist, Interpret, Werktitel, Aufnahmejahr und -ort …) eine benutzerfreundliche Struktur. „Aus jedem Mobiltelefon die ultimative Klassiksammlung machen“ – so beschrieb Janczukowicz einmal das Unternehmensziel. Drei Bezahlstufen bietet diese Musikbibliothek: eine kostenlose sowie zwei Premium-Versionen für verlusfreie Wiedergabe und die Möglichkeit, Musik auch ohne Internetverbindung zu hören.
In der Tat findet man quasi auf Knopfdruck knapp 160 Interpretationen von Beethovens Sturm-Sonate, wahlweise sortiert nach Veröffentlichungsdatum, Interpret oder Beliebtheit. Auch Dirigenten, Ensembles und Solisten lassen sich auf diesem Weg finden – und ab hier fängt dann der Spaß richtig an, wenn man in die Tiefen der Musikaufnahmen eintauchen möchte. Beispielsweise kann man Anne-Sophie Mutters künstlerische Entwicklung nachhören, indem man die verschiedensten Interpretation von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ mit den Wiener und den Berliner Philharmonikern, den Tronheim Soloists oder – in Auszügen – aus ihrem Club-Album mit „Mutter’s Virtuosi“ vergleicht. Oder man kann die Historie der Berliner Philharmoniker nachverfolgen, wie sie mit den verschiedensten Dirigenten die Sinfonien Beethovens interpretiert haben. In den Startlöchern steht bereits die Funktion „Live Compare“, die es ermöglichen soll, von der einen Aufnahme in eine andere zu wechseln, die dann just an der eben gehörten Stelle der vorherigen Aufnahme einsetzt.
Idagio: Hörempfehlungen inklusive
Mit einer derart sorgfältig programmierten Suchmaschine hat Idagio aus der lieben Not des maßlosen Überangebots von Streamings eine Tugend gemacht: Die Vielzahl der angebotenen Einspielungen überfordert nicht, sondern lädt dazu ein, sich voller Leidenschaft darin zu verlieren. Gleichzeitig muss man kein hemmungsloser Klassik-Enthusiast sein, um seine Freude an Idagio zu haben: Auf der Hauptseite werden die wichtigsten Neuerscheinungen nach Genre vorgestellt, Kritiker und prominente Musiker geben persönliche Empfehlungen ab. Und wer Musik zur Hintergrundbeschallung braucht, bekommt sie über Playlists geboten, die sechzehn verschiedene Stimmungslagen von festlich bis verärgert kennen.
Grundlage für das Angebot sind die Kataloge sämtlicher Major Labels – Deutsche Grammophon, Sony Classical und Warner – sowie der meisten Independent-Labels. 2019 befanden sich bereits zwei Millionen klassische Tracks im Portfolio. Auch die Honorierung der Künstler will das Berliner Startup gerechter gestalten und rechnet sekundengenau ab: Hört man sich durch den dreißigminütigen Satz einer Buckner-Sinfonie, erhalten die Künstler eine entsprechend höhere Vergütung als bei einem dreiminütigen Kunstlied. Ein interessanter Beitrag zur endlosen wie essenziellen Diskussion, wie Künstler für ihre Aufnahmen ihren verdienten Lohn erhalten.