Wir haben es verbockt. Als Gesellschaft haben wir es nicht geschafft, uns so zu verhalten, dass sich das Virus nicht verbreitet. Aber auch unter einem weiteren Aspekt haben wir versagt: Uns ist es nicht gelungen, den verantwortlichen politischen Gremien das Zutrauen zu vermitteln, dass sie eine differenzierende Entscheidung würden fällen können, die wir als Gesellschaft ebenso differenziert verstehen und annehmen würden.
Dank der immer wieder verfeinerten Hygiene-Konzepte und der Vernunft aller Beteiligten haben sich Opern-, Schauspiel- und Konzerthäuser bisher nicht zu Seuchenherden entwickelt. Um Corona- Infektionen zu vermeiden, bringt es daher offensichtlich nichts, diese Kulturstätten zu schließen. Wo sich bereits vorher null Menschen gegenseitig angesteckt haben, werden in den nächsten Wochen nicht weniger als null Infektionen möglich sein.
Aber genau diese differenzierte Betrachtungsweise hat man der Bevölkerung bei der gestrigen Entscheidung offenbar nicht zugetraut. Das Schlimme daran ist die Verengung des Denkens, der Tunnelblick, der entstanden ist: Nur noch schwarz oder weiß scheint es als Handlungsoptionen zu geben: entweder wird “gelockert” und “geöffnet” oder aber “zurückgefahren” und “geschlossen”.
Genau deshalb benötigt unsere Gesellschaft Kultur so dringlich: damit wir eben gerade nicht verblöden, eben gerade nicht nur schwarz und weiß kapieren können, sondern vielmehr einen differenzierten Blick in humanistischer Tradition auf die Welt richten. Denn Kulturstätten sind nicht gleichzusetzen mit Freizeiteinrichtungen, wie es gestern – sicherlich unter Zeitdruck – unglücklich formuliert wurde. Oder benötigen der Urheber dieses Fauxpas und diejenigen, welche die Formulierung gedankenlos übernehmen, gar ein Theaterabo, um Einblick in unser tägliches Tun zu erhalten?
Vielleicht ließe sich Corona mit der Brechstange eindämmen, aber um welchen Preis? Ich träume auch weiterhin davon, dass wir als Gesellschaft gemeinsam mit denjenigen, die uns repräsentieren, weniger pauschal agieren, sondern die einzelne Situation betrachten und den empirisch gewonnenen Erkenntnissen folgen, wo das Risiko einer Infektion groß ist und wo nicht.
Ebenso dringend benötigen wir aber Kultur in einem umfassenderen Sinn: eine Kultur im Umgang miteinander, die dazu beiträgt, dass wir aufeinander achtgeben, auf die körperliche und seelische Gesundheit unserer Mitmenschen.
Der kulturlose November 2020: So werden wir die Welt nicht retten.
Cornelius Meister am 29. Oktober 2020