Von Wilhelm Raabe stammt das Wort, das deutsche Genie komme zu Dreivierteln oder mehr aus der Provinz. Provinzieller kann eine Herkunft nicht sein, wenn man im masurischen Milken an der Memel geboren wird, auch wenn man dies 1928 als Kind eines Arztes tut, der lieber Geiger geworden wäre. 1933 zog die Familie ins nahe Tilsit, rund hundert Kilometer von Königsberg entfernt. Eine Kindheit, in der Musik und das Klavierspiel selbstverständlich waren, eine Kindheit, in die bald aber auch die Politik eingriff. „Und da fing ich an, viel zu lesen. Ich musste ja Argumente haben“, erzählte er im Interview. Aus dem musikalischen, „etwas sentimentalen, sensiblen, ästhetischen“ Kind wurde bald ein literaturinteressierter Junge, der es neben Marcel Reich-Ranicki zum bedeutendsten Kritiker der Nachkriegszeit bringen würde.
Der drohenden Einberufung entzog sich der Sechzehnjährige durch Flunkerei, indem er als sein Zuhause Bad Kösen in Thüringen angab. Auf dem Weg dorthin machte er am 10. Februar 1945 in Dresden halt und genoss die schöne Stadt, „wie man nur als junger Mensch genießen kann“. Drei Tage später existierte dieses Dresden nicht mehr. Die Familie fand schließlich in Lunden bei Husum eine neue Bleibe. Nach dem Abitur in Hamburg begann er ein Studium an der Universität in Göttingen, wo er Theodor Adorno begegnete, dem er nach Frankfurt folgte. Dort machte er „ziemlich schnell Karriere beim Rundfunk“ und reichte irgendwann seine Dissertation über Grillparzer nach. Seit 1959 lebte er in München, als Musikkritiker für die „Süddeutsche Zeitung“.
Joachim Kaiser: „Das Schöne lässt sich nicht abkürzen“
In jahrzehntelanger Arbeit baute er sich mit seinen Kritiken ein stolzes Vertrauenskapital auf. „Das Publikum braucht einen, auf dessen Urteil und Geschmack es vertrauen kann“, sagte er. Und: „Die meisten Musikfreunde fühlen sich heute überfordert durch die Flut von Informationen aller Art. Überinformation führt zu Desinformation.“ Nichts kränkte ihn mehr, als wenn man ihn fragte, wie es denn „wirklich“ gewesen sei; wenn man ihm „Tonfallschwindel“ unterstellte. Der sei die „Rettung der feigen Leute“, die glauben, etwas zumindest „interessant“ finden zu müssen. Kaiser sah sich stets auf der Suche nach dem „vornehmen Ton“, nach jenem Wort, das sein Empfinden angemessen wiedergab und „subkutan“ Information vermittelte.
Bloßer Fachjargon oder dummes „Begeisterungsgelaber“ sowie anbiedernden Jugendjargon und „dem Zeitgeist nachzulaufen“, lehnte er ab. „In unserer von Werbemetaphern durchzogenen Welt klingen die meisten lobenden Adjektive so fürchterlich abgenutzt, phrasenhaft und verlogen.“ Und: „Man kann einen Roman oder eine Sinfonie nicht auf eine Formel bringen. Das Schöne lässt sich nicht abkürzen.“ Kunst erfordere Zeit und Arbeit, und es gebe Durststrecken.
Kaiser wird fehlen
Eitelkeit war bei Kaiser kein Charakterfehler, mehr eine „deformation professionelle“. Kritiker werden deshalb so eitel, weil sie auf ihre Empfindungskraft vertrauen müssten, sagte er. Kritik an der eigenen Person nahm er sofort persönlich: „Man kommt nicht auf die Idee, dass jemandem einfach das Buch oder der Artikel nicht gefallen hat, man glaubt, er sei einem böse.“
Das Verhältnis zu dem galligen Dirigenten Sergiu Celibidache gab dem Münchner Klatsch lange Zeit Stoff. Während der eine „Glanz und Grenzen“ des Dirigenten ermittelte, schmähte der andere den „schlechten Klavierspieler“ und „Dilettanten“. Kaisers Begeisterungsfähigkeit für andere Künstler aber tat dies keinen Abbruch: „Ich bin nicht so stolz darauf zu belegen, dass irgendein Buch schlecht ist oder dass ich schlauer bin als der Autor; es macht mir vielmehr Spaß, den Menschen zu sagen: ,Hört euch dieses Quintett von Mozart an oder diese Sonate von Brahms’!“ Er wird fehlen. Sehr sogar.
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