Schuhe werden im Kühlschrank abgestellt, ein Anzug wird zerschnitten und eine Frau verbringt den Tag damit, überall ihre Socken zu verteilen. Einige Figuren stehen ratlos in der Gegend herum, brabbeln vor sich hin, andere wirken verzweifelt und versuchen, sich gegen etwas aufzulehnen, das sie nicht fassen können, weil es tief in ihnen selbst steckt. In fünfzig kurzen, lose aneinandergereihten Szenen entführt das Musiktheater „Alzheim“ des Schweizer Komponisten Xavier Dayer die Zuschauer in eine andere Welt. Innerlich anders, weil uns hier das Schicksal von acht Alzheimer-Patienten und einer Pflegerin vorgeführt wird. Äußerlich anders, weil das Stück in Thailand spielt. Und das nicht ohne Grund.
Insgesamt fünf Mal reiste der Schweizer Theaterkritiker und Journalist Jürgen Berger in den Jahren 2012 bis 2014 nach Chiang Mai im Norden Thailands, um die Demenzstation Baan Kamlangchay seines Landsmanns Martin Woodtli zu besuchen. Als Woodtlis Mutter an Alzheimer erkrankte und sein Vater sich deshalb das Leben nahm, entschied sich der Münchner Sozialarbeiter 2002, mit seiner Mutter nach Thailand auszuwandern und ihr in einer selbst gegründeten Einrichtung eine menschenwürdige Betreuung angedeihen zu lassen. Berger lebte für längere Zeit zusammen mit den Demenzkranken und führte zahlreiche Interviews, die er aber nicht zu einer Reportage, sondern zu einem Theaterstück verbinden wollte. Angetrieben wurde er von der Frage, ob es statthaft sei, alten Menschen die Heimat zu entziehen und sie in einem fremden Land zu pflegen.
Begleitung des Herzens
Aus dem geplanten Sprechtheater wurde schließlich das Libretto für ein Musiktheaterstück, das 2017 in Bern seine Uraufführung feierte. Im Zentrum von Alzheim steht die Geschichte zweier Menschen, die in der Schweiz eine heimliche Wochenendliebe gelebt und sich in Baan Kamlangchay wiedergefunden haben. Xavier Dayers einfühlsame Klangsprache korrespondiert dabei mit dem Grundgedanken von Woodtlis Demenzstation: „Kamlangchay“ kann als „ermutigend“ oder „Begleitung des Herzens“ übersetzt werden. Eine Anspielung auf den respektvollen Umgang der Thais gegenüber älteren Menschen, der sich stark unterscheidet vom durchstrukturierten, ökonomisierten Pflegesystem des Westens.