Der Video-Künstler Wim Catrysse hat in Barentsburg gefilmt, einer russischen Enklave nahe dem Nordpol, auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen. Früher wurde von hier Kohle nach Europa exportiert, jetzt reicht der immer schwerer abzubauender Rohstoff gerade noch zur Erhaltung des eigentlich obsolet gewordenen Vorpostens. Harte Leben einsamer Menschen in Endlosschleife. Catrysse führt dieses besonders absurde Paradox gnadenlos vor, den endlosen Winter, die endlosen Gänge unter der Erde, die von diesem Leben glatt geriebenen Gesichter.
Zwischen Vokalise und Geräuschhaftem
Wouter Van Looy hat dieses Bildmaterial mit gedanklich auf „Krisen-Philosophen“ wie Peter Sloterdijk basierenden, hochpoetischen Texten des belgischen Autors Paul Verrept kombiniert. Der Sprachkünstler Phil Minton trägt sie vor, rezitiert, brüllt, schnarrt, schreit, schmiert sie. Er sitzt im Mittelpunkt des Raumes, wie die Spinne im Netz, in einem Metallgerüst, an dem acht Leinwände so befestigt sind, dass jeder der im Kreis darum angeordneten Zuschauer genau zwei sehen kann.
essen
Was für schwere Kost, möchte man im Prinzip ausrufen. Wäre da nicht die Musik. ChorWerk Ruhr, der quasi festivaleigene Spitzenklangkörper, singt unter Florian Helgath zum Steine erweichen schön. Mit genau austarierter Mehrstimmigkeit füllen sie das Salzlager der Essener Zeche Zollverein, mit dem Gottvertrauen, der Demut und der Sehnsucht nach besserem des frühbarocken Komponisten Heinrich Schütz. Dagegen gesetzt werden die hier uraufgeführten erodierenden, sich scheinbar selbst fragmentierenden zwischen Vokalise und Geräuschhaftem pendelnden Klänge des 1949 geborenen Nikolaus Brass.
Ohne Mikrophonverstärkung und Klangregie
Die Sänger bewegen sich durch den Raum, oft hinter den Zuschauern, fast ständig in Bewegung, so dass sich die Klänge und Stimmen immer wieder neu zusammensetzen, neu mischen. Und das, für die Ruhrtriennale 2016 wirklich ungewöhnlich, ohne jede Mikrophonverstärkung und Klangregie, Surround-Sound im reinsten Analogton! So wird das verkopfte Konzept mühelos sinnlich, kommen uns die Bilder und Texte wie von selbst näher, sehen und hören wir sie nicht mit Abscheu oder Verständnislosigkeit, sondern neugierig und nachdenklich. „Earth Diver“ taucht tatsächlich ein in unsere Krisenzeit – für intensive, vorbei fliegende 75 Minuten.
Ruhrtriennale im Salzlager der Zeche Zollverein Essen
Earth Diver
Heinrich Schütz, Nikolaus Brass (Musik), Florian Helgath (Leitung), Wouter Van Looy (Konzept, Regie & Bühne), Wim Catrysse (Film & Bühne), Johanna Trudzinski (Kostüm), Phil Minton, ChorWerk Ruhr, Continuo-Gruppe des B’Rock Orchestra