55 Minuten-Tanzkraftfelder der aufregenden, bezwingenden Art keine Minute zu viel oder zu wenig. Nicht das Jubiläum der 15 Jahre von Goyo Montero und des Staatstheater Nürnberg Ballett sind die Sensation der Tanzpremieren-Folge dieser Spielzeit an der Pegnitz, sondern deren ausladende Energetik und dramaturgische Stringenz. Schon der Deutsche Tanzpreis 2018 signalisierte, dass man in Nürnberg bezogen auf Tanz Außerordentliches erlebt: Immer fordert Montero seine Compagnie bis zum äußersten – egal ob in einem von GMD Joana Mallwitz dirigierten Strawinsky-Abend mit „Le sacre du printemps“ und „Petruschka“, in „Goldberg“ oder in „Narrenschiff“ nach dem Spott- und Parabel-Epos des Dürer-Zeitgenossen Sebastian Brant.
Auch beim schlicht „Shechter/Montero“ genannten Premieren-Tandem mit für die Compagnie modifizierten deutschen Erstaufführungen zischte der Jubel des Publikums ab wie eine die Schallmauer durchbrechende Raketenflotte: Monteros „Anthem“ entstand 2019 für die São Paulo Companhia de Dança, der israelische Choreograf Hofesh Shechter kreierte „tHE bAD” 2015 für Auftritte der „Hofesh Shechter Company“ in Manchester.
Extremer Edeltreibstoff
Beide Stücke sind energetisch-motorische und künstlerische Extreme, die mit exzessiver Körperlichkeit und zivilisatorischer Janusköpfigkeit an Vaslav Nijinskys Ur-Choreographie von „Le sacre du printemps“ anknüpfen. Wenn auch aus anderen, weil dem bedrohlichen Zeitgeist des sich selbstgefährdenden Anthropozäns angeglichenen Überlegungen. Shechter nennt sein „tHE bAD” eine „Feier des Chaos und der Anarchie“.
Montero greift das von Yuval Noah Harari in „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ postulierte Evolutionstheorem auf. Beide Choreographen zeigen den Übergang der westlichen Hybridzivilisationen in die technokratische Neukodierung als entfesseltes und dabei zupackend strukturiertes Chaos der Leiber. Höchstanstrengung bedeutet das nicht nur für die Compagnie, sondern auch für die Augen und Nerven des Publikums. Montero zelebriert eine eigenwillige, dunkle Sinnlichkeit, Shechter setzt Tanz als Schnittstelle zum artifiziell bestechenden Hochleistungssport.
Bewegungen und akustische Impulse implodieren aneinander
Mit herkömmlichen Klängen eines Sinfonieorchesters kommt hier kein angemessenes Sounddesign zustande. Monteros Musik-Kompagnon Owen Belton legte in „Anthem“ eine Suite enervierender Flächen mit bohrenden Rhythmen und Atmosphären über die eine apokalyptisch sonore Stimme. In Shechters Mix verschmelzen Zutaten aus Mystikal, Hespèrion XX und vom genialen Barockmusiker Jordi Savall zu einer Rhythmus-Wolke mit explosiven Druckwellen. Beide Choreographen favorisieren frenetische Clubsounds aus dem Orkus der Nacht, in dem vegetatives Pulsieren die rationalen Sicherungen durchbrennen lässt. Bewegungen und akustische Impulse implodieren aneinander.
Aber der Weg in diese motorischen Extreme ist in „tHE bAD“ und „Anthem“ verschieden. Montero denkt sein 18-köpfiges „Anthem“-Ensemble von Anfang bis Ende als pulsierenden Gesamtorganismus, der Lebens- und Bewusstseinstiefen durchmisst und das Gemeinschaft-Sein bewahrt. Dagegen treibt Shechters „tHE bAD“ die Tanzenden trotz paralleler Gruppenbewegungen in die ekstatische Vereinzelung.
Äthetischer Kälteschock
Entstanden ist „tHE bAD“ unter selbstgewählten Extremen. Shechter steckt seine Tänzerinnen und Tänzer in goldene, enganliegende Bodysuits. So wirken diese im Alleingang und sogar bei Berührungen untereinander eisig und steril. Geprobt wurde 2015 bis kurz vor der Premiere nachts – unter Ortsbedingungen, die das Gefühl von Vereinzelung und Kälte intensivieren, aber auch die Wachsamkeit und Sensitivität schärfen.
Die Nürnberger Compagnie übernimmt diesen ästhetischen Kälteschock: Shechters Tänze beschleunigt und erhitzt sie aus diesem bis zum neuralgischen Punkt, an dem sich die Tanzenden nicht mehr spüren. Bewegungen, rhythmische Extreme und ästhetisches Fluidum streifen das Unkörperliche und Irreale. Damit ist „tHE bAD” ein säkulares Ritual mit dualistischer Antinomie zu „Anthem“. Beide Stücke beginnen mit einem wilden Hochreißen von Armen und Händen, münden dann allerdings in eine äußerst konträre Bewegungssprache.
Technokratische Schönheit
In „Anthem“ ist der rituelle Ursprung und der metaphysische Schauder vor einem gemeinschaftlichen Lebenspuls erkennbar. Monteros „Sacre“-Bezug wirkt eher symbolisch, der Shechters eher motorisch. Wie oft bei Montero ist die Bühne zuerst fast ganz dunkel. Später durchkreuzen und beschleunigen vertikale und horizontale Lichtkreise diesen tänzerischen Choral. Wie in der Musik durchfurchen Montero Stadien eines Musterlebens die rituelle „Handlung“. Fábio Matanames Kostüme modellieren die Tänzerkörper in Fleisch- und Schmutzfarben. Das Licht tanzt auf den Körpern wie diese im dunklen Bühnenkasten. Der Kampf, das Animalische und die Schönheiten des Lebens steigern sich zum monumentalen Panorama.
Aus dem pulsierenden Tänzerkollektiv schälen sich Episoden und Soli, ohne dass der Ensemble-Korpus dadurch schwächer und schmächtiger wird. In Analogie zu Hararis Blick auf die Evolution durch technische Neuorientierung und partielle Entmenschlichung modelliert Montero hinter der perfekten Hülle ein die Zweifel überstrahlendes Lamento. Faszinierend verbinden sich in seiner ganzen Crew körperliche Virtuosität, ästhetische Perfektion und archaische Melancholie. So ergänzen sich beide vor Vitalität explodierenden Kurzstücke: Auf die humane Brillanz von „Anthem“ folgt in „tHE bAD“ die Selbstauslöschung des Intelligiblen in einer physischen Apotheose des Tanzes: Bipolarität auf metaphysischer Höhe einer zerrissenen Gegenwart.
Staatstheater Nürnberg
Shechter/Montero: Anthem/tHE bAD
ANTHEM von Goyo Montero: Goyo Montero (Konzept, Choreografie), Owen Belton (Komposition), Fábio Mataname (Kostüme), Nicolás Fischtel (Licht)
tHE bAD von Hofesh Shechter: Hofesh Shechter (Konzept, Choreografie & Komposition), Bruno Guillore (Casting), Hofesh Shechter (Kostümkonzept), Lawrie McLennan (Licht), Alan Valentine (Technische Projektleitung), Staatstheater Nürnberg Ballett