Mindestens vier Schwächeanfälle, welche für die Betroffenen Hilfe nötig machte, gab es während der 130 Minuten der Eröffnungspremiere zu den Münchner Opernfestspielen 2022 allein im Parkett. Solche lebhaften Reizungen werden weniger durch Sommertemperaturen als die hoch erregte Anteilnahme am Bühnen- und Musikgeschehen verursacht. Berüchtigte Schockmomente kennt man zum Beispiel aus „Tristan und Isolde“ oder „Madama Butterfly“. Im neuen Musiktheater sind sie seltener und folgen da eher den aus Medien bekannten Mustern von Provokation oder Empörung. „Die Teufel von Loudon“ sind in München ein deutlicher Beweis für die unplanbare Relevanz von Theater, wie sie selbst Staatsintendant Serge Dorny und GMD Vladimir Jurowski bei der Entscheidung für Pendereckis erste Oper wohl kaum für möglich gehalten hätten. Nicht auszudenken, was eine Inszenierung von „Die Teufel von Loudon“ mit der Schärfe zum Beispiel von Dietrich Hilsdorf an Publikumsreaktionen entfesseln würde. Simon Stone war da weitaus moderater. Nur die Buh-Salve einer einsamen Frauenstimme rebellierte gegen den Beifallschor des Publikums. Stone setzte in den Szenen der kleinen Nonnen-Orgie und der Folterung des Paters Grandier plakative Mittel, verhielt sich aber sonst gegenüber Krzysztof Pendereckis an der Hamburgischen Staatsoper 1969 uraufgeführten Oper vergleichsweise vorsichtig moderat. Die brisante Synergie von Stück und Premieren-Zeitpunkt ist auch ein Paradebeispiel für die Wirkungskraft von Theater – unabhängig von dessen künstlerischem Gelingen oder Misslingen.
Eine Studie über kollektive Entfesselung und infernalische Vernichtungswut

Penderecki wollte das bei Aldous Huxley vorgefundene Sujet nach realen bipolaren und toxischen Begebenheiten im französischen Loudon 1634 unbedingt vertonen. Ihm und auch den Regisseur Stone ging es allerdings neben dem Bashing gegen die katholische Kirche um eine Studie über kollektive Entfesselung und infernalische Vernichtungswut. Allerdings mit einem wesentlichen katholischen Hintergrund. Kurz vor der Premiere publizierte die Süddeutsche Zeitung, dass nach dem Umgang der katholischen Kirche mit den internen Missbrauchsfällen die Zahl der Austritte so hoch war wie noch nie. „Die Teufel von Loudon“ zeigen einen konkreten Anlass, um über die moralischen, sozialen und sanktionierenden Gründe dieser Erosion in einer der bisher stärksten christlichen Konfessionen nachzudenken. Pendereckis Oper schildert ein Klima der Angst in einem System des politisch wie ideologisch instrumentalisierten Aberglaubens. Es geht also – auf gut Neuhochdeutsch – um Fake News und alternative Fakten, welche zum dogmatischen Autoritätserhalt auf breiter Basis verbreitet werden.
Säkularisierte Walpurgisnacht

Stone denkt allerdings nicht nur an Parallelen zur katholischen Kirche heute, sondern darüber hinaus an alles, wo echte und behauptete Werte von Zivilgesellschaften zur Diskussion stehen. Bob Cousins Bau aus Beton, Holz und Metall mit transparenten Gängen, Nischen und Treppen sind nicht nur das Ursulinenkloster von Loudon, sondern ein Repräsentationsgebäude für alle Zwecke. Er kann Kirche, Museum, Bibliothek sein. Eine Insel aus Stein mit einem schlichten Wandkreuz aus lilaleuchtenden Neonstäben. Bei der Folter und Hinrichtung des Priesters Grandier zeigt Stone in diesem nüchternen Ambiente den repräsentativen Querschnitt einer Gesellschaft, welche mit gelassener Ruhe Skandale beobachtet und kaum noch auf diese reagiert. Inklusive Medien. An der Figur des von Wolfgang Ablinger-Sperrhacke eindringlich gespielten Baron de Laubardement wird deutlich, dass es nur um die nach außen reine Weste geht, wenn der Schlächter vom unschuldigen Opfer das Schuldgeständnis erfleht. Am 27. Juni 2022 hat Pendereckis Sujet fast noch mehr Explosivpotenzial als im moralischen Aufruhr der 1968er-Bewegung vor über 50 Jahren. Bei der Besetzung des Priesters Grandier fand durch die Covid-Infektion von Wolfgang Koch sogar eine Verdeutlichung statt. Koch wirkt auf den Fotos wie ein von Trieben und Gewissenskonflikten gebranntmarkter Abtrünnniger. Auf der Bühne aber zeichnet Robert Dölle jetzt einen in seinen erotischen Abenteuern wie im dogmatischen Ringen hoch achtbaren Charakter. Dieser Grandier hat es nicht nötig, seine fleischlichen Schwächen auf exorzierbare Teufelsfratzen zu projizieren. Er reflektiert das Dilemma von Sünde und Zölibat deutlich, aber nicht von Schuld zerfressen. Und er ist nicht das Opfer eines latenten Selbsthasses. Auf einen erhöhten Podest steht der Sänger Jordan Shanahan im hinteren Orchestergraben. Wenn Shanahan singt und im schnellen Wechsel mit den die Textstellen Grandiers übernehmenden Dölle reagiert, entstehen Parallelen zu den hohen Stimmen der Nonnen und den Einwürfen des mit Bass-Krächzen flüsternden Versuchers.
Der Mensch ist Opfer seiner selbst, nicht des Teufels.

Zwei Stimmen wohnen also in den Brüsten der frustrierten Himmelsbräute. Das ist von Penderecki so komponiert – und wird auch in dieser imposanten Premierenrettung durch Dölle und Shanaham deutlich: Der Mensch ist Opfer seiner selbst, aber nicht des Teufels. Bekanntermaßen versetzt Simon Stone alte Stoffe gern in heutige Interieurs am jeweiligen Aufführungsort seiner Inszenierungen. Wenn die Nonnen von religiösen Gedanken in nur allzu irdische Spaßbedürfnisse gleiten, gönnt Stone sich und dem Publikum ein paar von RTL und dem wenige Jahre nach der Oper entstandenem Filmklassiker „Der Exorzist“ inspirierte Einlagen. Die Masse sieht also nur das, was sie sehen will und was sie versteht, nicht aber die wahren Anlässe. Weil Penderecki der Klosterpriorin Jeanne viel Rezitativisches und oft eine fast kindliche Melodik zuteilte, wirkt die Partie bei Aušrine Stundyte weitaus leichtgewichtiger, als sie tatsächlich ist. Nur an ihr zeigt Stone eine psychisch plausible Entwicklung. Ausrine Stundyte macht sichtbar, wie Jeanne gegen die nach außen zur Schau getragene Gelassenheit rebelliert und Begehren im langen Knickpunkt zur Perversion wird.
Die Musik Pendereckis hat weithin die ihr um 1970 zugeschriebenen Schrecknisse verloren.

Paradox auch das Geschehen im Orchestergraben: Die Musik Pendereckis hat weithin die ihr um 1970 zugeschriebenen Schrecknisse verloren, erweist sich jetzt als gestisch, ausdrucksstark, bildhaft. So ist sie eine sogar dialektische Spielvorlage. Rezitative über der Continuo-Formation mit Kontrabass, melodische Inseln an trügerischen Stellen und ein deutlich erkennbares Formgefüge erleichtern das Hören auch ihrer komplizierten Strukturen. GMD Vladimir Jurowski gibt der Musik sogar einen die Bizarrerien verdichtenden Touch. Er lässt die erste Ausgabe der Partitur spielen, welche die Orchestermitglieder zu hoher Eigeninitiative und individuellen Entscheidungsfreiheiten herausfordert. Die wild getürmten und durch Improvisation entstehenden Klangballungen (Clusters) brechen sich in der für solch schroffe Klangwechselbäder idealen Akustik des Nationaltheaters an trügerisch intimen Momenten.
Widerlegung des Dualismus von Gut und Böse

Wie beim Tanz um das goldene Kalb in Schönbergs „Moses und Aron“ gibt es bei Penderecki an Momenten von brachialer und subtiler Gewalt oft zurückhaltende Kammermusik. Das Bayerische Staatsorchester enttarnt mit schmetternder Plakativität und mikroskopischer Feinheit den Dualismus, welcher das Projizieren eigener Triebhaftigkeit auf den Antichrist ermöglicht, als dogmatische Lüge. Auch deshalb wirkte Pendereckis Musik am Premierenabend so verstörend, obwohl ein Großteil des Ensembles und der Chor ziemlich glatt bleiben. Die Aufführung aber widerlegt auch den Dualismus von Gut und Böse an sich. Sie zeigt anhand des Grandier-Prozesses die Verschränkung von religiösem Ideal und Antihumanität als paradigmatisches Beispiel. Stone verdeutlicht, wie kollektive Kräfte animalisch, widersinnig und lethargisch walten. So gerät diese Premiere zu einer Anleitung zum kollektiven Unwohlsein, der Zweifel an religiösen und säkularen Dogmen kommt bestechend zum Ausdruck. Der lange, aber flache Applaus zeigt, dass dieses Unwohlsein sehr gut verstanden wurde. So geht Oper, bei der physische und mentale Übelkeit bestens nachvollziehbare Reaktionen sind. Eine Festspiel-Premiere mit Format.
Aufgrund des aktuellen Infektionsgeschehens gibt es mehrere personelle Ausfälle in der Besetzung der Neuproduktion von Krzysztof Pendereckis „Die Teufel von Loudun“. Die Vorstellungen am Donnerstag, 30. Juni sowie am Sonntag, 3. Juli 2022, müssen, bedingt durch die Komplexität des Werkes, ersatzlos entfallen. Die verbleibenden Vorstellung am Donnerstag, 7. Juli 2022 soll wie geplant stattfinden.
Bayerische Staatsoper München
Penderecki: Die Teufel von Loudon
Vladimir Jurowski (Leitung), Simon Stone (Regie), Bon Cousins (Bühne), Mel Page (Kostüme), Nick Schlieper (Licht), Sven Eckhoff (Klangregie), Malte Krasting (Dramaturgie), Aušrine Stundyte, Ursula Hesse von den Steinen, Nadezhda Gulitskaya, Lindsay Ammann, Danae Kontora, Nadezhda Karyazina, Robert Dölle & Jordan Shanahan, Martin Winkler, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke, Andrew Harris, Ulrich Reß, Kevin Conners, Jochen Kupfer, Thiemo Strutzenberger, Barbara Horvath, Sean Michael Plumb, Milan Siljanov, Martin Snell, Christian Rieger, Steffen Recks, Christian Rieger, Chor der Bayerischen Staatsopernchor, Bayerisches Staatsorchester