Eine „Dreigroschenoper“ im Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm auf die Bühne zu bringen, das ist ein Heimspiel mit Risiko. Den genius loci haben die Wagemutigen im einstigen Brecht-Theater auf ihrer Seite. Hier gehört die „Dreigroschenoper“ zum Selbstverständnis. Schon, weil sie 1928 an diesem Ort, mitten in Berlin, uraufgeführt wurde und bis zum Aufführungsverbot durch die Nazis ein Teil des Zwanziger-Jahre-Sounds war. Und geblieben ist. Wird sie heute gespielt, beschwört sie auch die Geister der Vergangenheit. Bei einem Teil des Publikums gehört zudem die vergleichende Erinnerung in den Cocktail der individuellen Maßstäbe. Mindestens die an die stilisierte Vorgänger-Inszenierung von Robert Wilson, die von 2007 an über zehn Jahre ein Kassenmagnet war.
Bei dem Angebot von Oliver Reese, die Neuinszenierung auf dieser authentischen Bühne zu übernehmen, hat der Intendant der Komischen Oper, Regiealleskönner und Spezialist für die Musik der zwanziger und dreißiger Jahre Barrie Kosky die Chance sofort genutzt. Auf die Idee, das Stück als Oper (mit Opernsängern) in seinem Haus zu inszenieren, käme einer wie Kosky nicht. Er hat den Bühnendauerbrenner natürlich dennoch mit seinem Sinn fürs Musiktheater und seiner Vorliebe für die Revue gemacht und die Puppen allesamt gleichsam tanzen lassen.
Mitmachmomente fürs Publikum
Mit einem Glitzervorhang dicht an der Rampe und dem Mond-Gesicht mit der wunderbaren Stimme von Josefin Platt (als Mond über Soho) beginnt das Spiel mit dem Mackie Messer-Song. Die im Dunkeln sieht man gleich danach. Und das gewaltige Kletterlabyrinth, das Bühnenbildnerin Rebecca Ringst aus mehreren beweglichen Türmen gebaut hat. Dahinter gibt es noch einen zweiten Glitzervorhang. Womit das Stück gleichsam aufs Gerüst reduziert und als Show vorgeführt wird. Oder eben die klaustrophobische Enge der Straßen des Londons der kleinen und größeren Ganoven beschwört. Ohne, mit Bildern irgendeiner historischen Realität zu liebäugeln.
Diese Bühne ist eine stimmig räumliche Übersetzung von Koskys Zugang. Er reduziert die „Dreigroschenoper“ auf die grandiosen populären Musiknummern, abstrahiert von jedem sozial historisierenden Bezug mit dieser Bühnen-Ästhetik und lädt dann das musikalische Gerüst wieder mit den Brechtschen Kernsätzen auf. Dabei verlässt er sich auf das Charisma der Musiknummern, lässt die aber nicht (nur) von seinen Darstellern über die Rampe feuern, sondern auch im Licht der Poesie leuchten. Natürlich zieht ein Regisseur wie Barrie Kosky dennoch alle Theater- und Showregister. Mitmachmomente fürs Publikum inklusive.
Kosky inszeniert mit leichter Hand
Auch der musikalische Leiter Adam Benzwi und seine hinreißende, auch schroff auftrumpfende, sechsköpfige Dreigroschenband müssen da mitmachen. Graben und Szene kommen ohne jeden vordergründig in die Gegenwart projizierten Agitprop-Gestus aus. Wenn man hinhört – und man hat bei der Intensität, mit der sie allesamt sprechen und vor allem singen, keine andere Chance – kommen die Brechtschen Kernsätze dennoch sicher ins Ziel. Dafür sorgen schon die Vehemenz und die Spielfreude mit der sich jeder in seine Rolle wirft und allesamt immer wieder den von manchem Zuschauer erwarteten traditionellen Brechtsound subtil unterlaufen.
Kosky inszeniert mit leichter Hand und setzt dabei nicht nur auf die pure Lust an der Wiederbegegnung mit Sätzen, die man nur in Weill-Melodien denken kann. Es geht schon auch um die Wahrheiten über die menschliche Natur, das Elend und die Skrupellosigkeit, daraus Profit zu schlagen
Ein ErSieEs-Schmiermittel des Systems
Dass dieser Jugendwurf von Brecht und Weill so zündet (und einige wenige Zuschauer auch ärgert), liegt vor allem am Ensemble. Abgesehen davon, dass sie alle phantastisch singen können, führt hier jeder eine ganz eigene Persönlichkeit vor und ist sie zugleich. Distanzierte Verfremdung geht anders. Aber so geht es eben auch. Allen voran der Mackie Messer von Nico Holonics. So aus dem Bauch, aus dem Körper, aus seiner schwarzen aber doch auch charmanten Seele heraus auf die Bühne geschleudert gibts diesen Bühnengauner auch nicht alle Tage. Ein eigenwilliger aber grandioser Macheath!
Auch das Chef-Ehepaar der Firma Peachum ist dank Tilo Nest und Constanze Becker eine Klasse für sich. Er mit einer überraschenden Lockerheit des Durchblickers, der seine Umwelt und nebenbei auch noch uns mit seinen Weisheiten ausstattet, aber auch einen atemberaubenden Slapstick drauf hat. Sie, eine Frau im Pelzmantel mit nix drunter und einer Art über die sexuelle Hörigkeit zu singen, dass man ihr jedes Wort abnimmt. Beides Existenzen, die sich in der Grauzone gleich neben der bürgerlichen Legalität eingerichtet haben, wohlfühlen und die Spielregeln der Heuchelei beherrschen, ja mitbestimmen. Kathrin Wehlisch ist ein androgyn, zwischen den Sphären changierender Polizeichef Tiger Brown. Alter Kriegskumpel von Mackie, die personifizierte Bestechlichkeit, einfach nicht zu greifen, ein ErSieEs-Schmiermittel des Systems.
Die Frauen von Cynthia Micas (Polly) über Spelunkenjenny (Bettina Hoppe) bis zur quicklebendig aufdrehenden Lucy (Laura Balzer) suchen mit Selbstbewusstsein nach ihrem Platz in dieser Welt, in der die Verhältnisse nicht zulassen, dass der Mensch einfach gut sein kann. Hier entkommt man dem Galgen nur, wenn der reitende Bote des Königs kommt und man – wie Brecht und Weill – die Geschichte in einem Als-Ob-Happyend enden lässt, von dem jeder merkt, dass es nur „Oper“ ist. Eine Dreigroschenoper eben. Es war eine gute (Intendanten-)Idee, auf den Wilson Koskys Vollbluttheater folgen zulassen. Und damit dieses tolle Ensemble ins Rennen zu schicken.
Berliner Ensemble
Brecht/Weill: Die Dreigroschenoper
Weitere Termine: 14., 15., 20., 21. & 22.8., 3. & 4.9.2021
Barrie Kosky (Regie), Adam Benzwi (Leitung), Rebecca Ringst (Bühne), Sibylle Baschung (Dramaturgie), Dinah Ehm (Kostüme), James Scannel, Doris Decker, Otwin Zipp, Stephan Genze, Ralf Templin, Vít Polák (Band), Nico Holonics, Cynthia Micas, Tilo Nest, Constanze Becker, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe, Josefin Platt