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Blickwinkel: Christian von Götz

„Wir dürfen die Stigmatisierungen, Leiden und Verluste nicht ausklammern“

Opernregisseur Christian von Götz über die Uraufführung seiner musikalischen Farce „Mazeltov, Rachel’e“ an der Oper Köln.

vonRoland H. Dippel,

Die Oper Köln präsentiert zum Jubiläum „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ heute um 18.00 Uhr die Uraufführung „Mazeltov, Rachel’e“ im Saal 3 der Interimsspielstätte StaatenHaus. Christian von Götz schickt seiner Hauptfigur Lea in einer turbulenten Pessach-Nacht ihre eigene Urahnin, die Operettendiva Rachel, und andere künstlerische Köpfe aus Odessa, New York und Berlin in die Mülheimer Wohnung. Von Götz entdeckte lange Zeit vergessene Musik von Abraham Goldfaden, Solomon Smulewitz, Reuben Doctor, Leo Fall und vielen weiteren Komponisten. Seine musikalische Farce führt zu funkensprühenden Begegnungen von jüdischer Kreativität und internationaler Unterhaltungskultur.

Wie kam es zu dieser Produktion?

Christian von Götz: Zu den unterhaltenden Genres mit ernstem Hintergrund spüre ich neben meinen Hauptaufgaben als Opernregisseur eine besondere Affinität. Zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach hatte mir die Oper Köln 2019 deshalb den Theaterabend „Je suis Jacques“ anvertraut. Den Operetten- und Opernkomponisten Offenbach assoziiert man aber eher mit seinem Einfluss auf das europäische Musiktheater als mit seiner jüdischen Sozialisation. Das war thematisch mein Ausgangspunkt für die Uraufführung „Mazeltov, Rachel’e“, in der es um die Wiederentdeckung vergessener Musik und die Frage nach kulturellen Identitäten geht.

Von den im deutschen Sprachraum bekannten jüdischen Unterhaltungskomponisten habe ich nur Leo Fall erkannt. War eine solche Schwerpunkt-Verlagerung Absicht?

von Götz: Das stimmt nicht ganz. Michael Krasznay-Krausz, einer der von uns verwendeten Komponisten, hatte 1927 – also während der Hochphase von Oscar Straus, Leo Fall und anderen – mit der Operette „Eine Frau von Format“ in Berlin einen Riesenerfolg. Leo Fall blieb, nachdem wir sonst alles an mitteleuropäischer Musik herausgenommen hatten, übrig. Ich wollte unbedingt das berühmte Walzer-Lied „Heut könnt‘ einer sein Glück bei mir machen“, das Fall für Fritzi Massary als „Madame Pompadour“ komponierte, hier für die Figur des Goldfaden und damit einen männlichen Sänger umwandeln. Aber „Mazeltov, Rachel’e“ sollte keine Hitparade werden, sondern die Huldigung an eine vergessene, weil durch die Nationalsozialisten abgetötete Kulturnische.

Bei der Rahmenhandlung Ihres Stücks habe ich unwillkürlich an Goldes Traum von Mama Zeitel in „Anatevka“ gedacht…

von Götz: Diese Szene stützt sich auf archetypische Bilder, die nicht mit einem bestimmten Stück in Zusammenhang stehen. Man kann sich der jiddischen Kultur und ihren Domizilen wie in New York auch ohne plakative Assoziationen an „Anetavka“ oder Marc Chagall nähern. Das sind verrückte, effektive, traumhafte Bildwelten. Der Schtetl als spezifisch hebräische Form des Soziallebens enthält aber auch andere Kontexte.

Welche Stilrichtungen haben Sie für die Musikauswahl angesteuert, wenn nicht die ohne Beiträge jüdischer Komponisten und Interpreten weitaus ärmere Operette?

von Götz: Für den Broadway und Amerika waren die Jahre um 1910 eine musikalisch explosive Epoche. In dieser goldenen Ragtime-Ära entwickelten sich bis heute nachwirkende Theater-, Revue- und Song-Formate. Weniger bekannt ist hierzulande, dass der Yiddish Broadway eine eigene Gruppe im Unterhaltungspool war, dessen spezifische Klangfarben auf die anderen Szenen ausstrahlten. Für die Musikauswahl von „Mazeltov, Rachel’e“ habe ich umfänglich im Archiv der Library of Congress, Washington DC recherchiert und entdeckte dabei eine Menge von erstaunlicherweise bis heute vergessenen Musiknummern. Etwa die Hälfte von diesen konnten wir verwenden. Darunter befinden sich auch Lieder aus dem europäischen Osten.

„Mazeltov, Rachel’e“ an der Oper Köln
„Mazeltov, Rachel’e“ an der Oper Köln

Inwiefern bereichern Ihre Funde unser Bild vom Broadway und von der jüdischen Kultur vor dem Ersten Weltkrieg?

von Götz: Der Yiddish Broadway wurde um 1910 zu einem Kulminationspunkt der Immigrantenkultur, was sich einige Jahrzehnte mit aus Europa vor dem Naziterror Geflüchteten fortsetzte und wiederholte. Viele Juden flohen seit 1881 nach den Pogromen von Odessa, was ein Zentrum ihrer Kultur war, nach Amerika und Mitteleuropa. Sie brachten ihre musikalischen Idiome mit, welche in die für neue Tendenzen sehr offenen Theater und Konzerte Eingang fanden. Dieses Paralleltheateruniversum von 1910, in dem die Wunden der Vertreibung noch lange nicht verheilt waren, zeigen wir aus der Perspektive unseres Handlungsorts Köln-Mülheim. Zugleich wollen wir die sehr kreative Sonderform des Yiddish Ragtime für das Publikum von heute entdecken. Dieser weite menschliche Fokus mit seiner verblüffenden Vitalität und Frechheit war mir wichtig, also dieser Sprung von der Tragödie in die Komödie und der vitale Sarkasmus dazwischen. Eine dramatische Umsetzung wird erst recht spannend, weil es um „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ geht. Zu diesem Jubiläum dürfen wir die Stigmatisierungen, Leiden und Verluste nicht ausklammern.

Wie verbinden Sie die musikalischen Aspekte des Jiddish Ragtime mit Köln?

von Götz: Die Rachel in unserem Titel war Operettendiva in Odessa. Ihre Ururenkelin Lea, beide dargestellt von Dalia Schaechter, erinnert sich. Die Tochter ist zum Zeitpunkt unseres Stücks älter als die Mutter in Leas Erinnerung. In einem vergleichbaren Spannungsfeld zwischen dem, was sie verkörpert, und dem, wer sie ist, steht Dalia Schaechter selbst. Sie fragte sich als dramatischer Mezzosopran immer wieder: „Warum singe ich als Jüdin aus Tel Aviv so oft Wagner und nicht einmal die andere, also meine Seite und deren Perspektive.“

Geht in „Mazeltov, Rachel’e“ mit dieser Frage eine kritische Sicht auf Wagner einher? Wagners Antisemitismus hat jüdische Sängerinnen und Sänger im ganzen 20. Jahrhundert nicht davon abgehalten, in seinen Werken aufzutreten.

von Götz: Es geht uns um eine Wahrnehmungsveränderung. Am Ende singt Dalia Isoldes Liebestod – mit Begleitung unseres Klezmer-Ensembles in jiddischer Sprache. Durch diesen ungewohnten Sprachklang wird Wagners pathetisch ausholender Erlösungsstabreim ungewohnt kantig und somit pragmatisch. Das – zumindest erhoffen wir uns das – macht Wagners tönenden Kosmos auf einmal menschlicher und nahbarer.

Bei Wagner ist vieles theoretische Spekulation, obwohl die Basis zur ideologischen Vereinnahmung in seinen Texten vorhanden ist. Aber angesichts der an den Juden begangenen Verbrechen lässt sich kaum ein jüdisches Kunstwerk ohne Gedanken an die Pogrome und den Holocaust betrachten.

von Götz: In der jüdischen Kultur selbst sind die erlittenen Pogrome und der Holocaust ein oft unausgesprochenes, aber unauslöschliches Thema. So überreicht in „Der Tales“ von Herman Wohl und David Meyerowitz eine Mutter dem Sohn einen Schal seines Vaters, ohne dessen Todesursache zu erwähnen. Im Umgang mit Werken jüdischer Autoren und deren Interpretation ist es immer eine ganz besonders sensible Herausforderung, Pointen nicht hemmungs- und verantwortungslos auszuschlachten. Andererseits darf der spezifisch jüdische Witz nicht durch lastende Nachdenklichkeit und Erinnerungen an die Katastrophen stumpf werden.

Haben Sie unmittelbare Bezugspunkte zu jüdischem Leben in Deutschland?

von Götz: Ich komme aus einer protestantischen, der SPD nahestehenden Familie in Norddeutschland. Durch meine Mutter war das Thema für mich schon früh präsent. Auf das Entdecken jüdischer Kontexte habe ich mich erst als Wahl-Kölner intensiv eingelassen. Das Jiddische ist in Köln durch das Sich-Durchdringen von Genuss und Bewusstsein stark präsent. Hier konnte ich auch die jüdischen Riten kennenlernen, zum Beispiel die Bedeutung der Menora. Mein persönlicher Antrieb für die Produktion von „Mazeltov, Rachel’e“ ist, dass wir in Deutschland einen selbstverständlichen, emanzipierten Umgang mit jüdischen Lebensformen lernen sollten. Es geht noch immer um die Rehabilitierung und Wiederentdeckung jener Kultur, die der Nationalsozialismus zum Aussterben brachte.

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