An der Zeitenwende vom Ziergesang des Belcanto mit seinen tönenden Girlanden, zauberschönen Schwelltönen und kunstfertigen Koloraturen hin zu einem gleichsam bereinigten Gesang der neuen psychologischen Wahrhaftigkeit bildet Verdis Il Trovatore ein spannendes Studienobjekt. Seine Partitur ist noch durchsetzt von Trillern, von fast unmerklichen Akzenten, von Achtel- und Sechzehntelpausen, die der melodischen Linie rhythmischen Puls verleihen und dabei zugleich das Zwerchfell der Sänger aktivieren. Es stehen Piani und Pianissimi in der Partitur, die eine ausgeprägte dynamische Flexibilität erfordern und ein echtes Forte eher zur Ausnahme denn zur Regel machen. Und doch sind wir es gewohnt, diese Oper mit all ihren Super-Hits aus Cavatinen und Cabalettas als dramatisches Stimmfutter für Primadonnen und Heldentenöre zu konsumieren. Da erwarten wir vokal die große Geste und das protzige Kraftmeiern, viel weniger die kleinen Kostbarkeiten, wollen am Ende der Manrico-Stretta eben ein echtes „Do di petto“, also ein mit Bruststimme gestemmtes hohes C gänsehauterregend über uns ergehen lassen. Vokaler Spitzensport.
An der Staatsoper Berlin, die immer noch im Schillertheater residiert – ihr Stammhaus unter den Linden wird über Jahre saniert – gibt es derzeit einen Trovatore zu bestaunen, der in gleich mehrfacher Hinsicht mit der Rezeptionsgeschichte bricht. Und das liegt nicht nur an den beiden berühmtesten Sängern unserer Zeit, die hier in für sie neuen Rollen debütierten. Auch der musikalische Hausherr Daniel Barenboim macht von Beginn an klar, dass es ihm kaum um schmissigen Hm-Ta-Ta-Ohrenschmaus, feurige Effekte und ein rasendes Dauer-Brio geht. Hintergründig düstere Farben evoziert er schon in der verblüffend leisen Introduktion. Leonoras Auftrittsarie „Tacea la notte“ nimmt er so langsam, dass man Angst um den Atem der Sopranistin haben müsste, stünde hier nicht eine Anna Netrebko, die Leonora als somnambules Püppchen spielen muss, auf der Bühne. Die Netrebko verfügt freilich über eine so superbe Atemkontrolle, dass man meint, Barenboim und seine Staatskapelle trage sie auf den Händen. Das Ausformen ganz langer Linien, das Aufblühenlassen von Phrasen aus einem sicher fundierten Mezza Voce hin zu einem glühenden Spitzen-Schlusston, der in einem riskanten Diminuendo zurück ins Piano geführt wird – das sind, im besonderen in Leonoras Arie des 4. Aktes „D’amor sull’ali rosee“, musikalisch magische Momente, solche eines späten Belcanto freilich, die Verdi so gefühlsecht vertieft, dass wir sie nicht mehr als vokalen Seiltanz bespötteln müssen, sondern uns durch sie als wahre Seelenkunst berühren lassen können.
Interessanterweise birgt Barenboims Verdi-Verfeinerung, die zu Beginn noch durch einige nervöse Wackelkontakte getrübt wird und erst im Laufe der Premiere an Dichte gewinnt, ihrerseits die Gefahr der Verkünstelung. Mitunter droht der dramatische Impetus in der allzu ausgeprägten und dabei stets auch sängerfreundlichen Vorsicht zu kurz zu kommen. Wer sich von alten Rollenbildern und Klischees allerdings verabschiedet, kann an diesem Abend viel Beglückendes erleben. Zum Beispiel eine Azucena, die von Marina Prudenskaya nie bruststimmig versteift, sondern mit Agilität, Jungendlichkeit und erotischen Mezzowendigkeit gesungen und als hypnotisierte Hysterikern aufregend anders dargestellt wird. Oder den Manrico des Gaston Rivero, der als kindsköpfig antiheldischer, struwwelpetrig jungmännischer Rocker-Troubadour mit einem hellen, offenen, schlanken und hoch gelagerten Tenor aufwartet.
Damit bildet Rivero den denkbar stärksten stimmfarblichen Kontrast zum Tenorissimo der letzten fünfzig Jahre, der sich nun mit dem Conte di Luna eine weitere Baritonpartie erarbeitet hat. Plácido Domingo macht in seinem achten Lebensjahrzehnt immer noch eine Bella Figura, verströmt sein unverwechselbares Charisma, seine hochintelligente Musikalität und präsentiert sich in erstaunlich guter stimmlicher Verfassung. In der für einen Verdi-Bariton besonders hohen Tessitura des Luna kann Domingo seine angestammt starke Tenor-Mittellage besonders gewinnend einbringen. Bewusstes Abdunkeln ist hier kaum nötig, immer wieder meint man, der eifersüchtige Otello – Domingos Lebensrolle – habe sich einfach aus dem Venedig der Renaissance nun ins Spanien des 15. Jahrhunderts verirrt. Sein Otello-Bronzeton begeistert immer noch. Wenn Domingo jedem Wort dramatische Bedeutung beimisst, wenn sein Singen nie nur schön, sondern stets theatralisch glaubwürdig aufgeladen und durchpulst ist, löst er den luxuriösen Zwiespalt der Aufführung – und dieses wunderlichen Werks zwischen Belcanto- und Wahrheitskunst – tatsächlich auf.
Philipp Stölz hat die kruden Sprünge der Handlung in seiner Inszenierung klug in einem grotesken Commedia dell’arte-, Zirkus-, Kasperle- und Gauklertheater aufgefangen. Wenn er dabei konsequent auf Typentheater statt auf psychologische Durchdringung setzt, hält er uns aber auch die Identifikation mit all den wunderschön leidenden Kreaturen vor. Und das ist wirklich schade.
Staatsoper Berlin
Verdi: Il Trovatore
Ausführende: Daniel Barenboim (Leitung), Philipp Stölz (Inszenierung), Conrad Moritz Reinhardt/ Philipp Stölz (Bühnenbild), Ursula Kudrna (Kostüme), fettFilm (Video), Plácido Domingo, Anna Netrebko, Gaston Rivero, Marina Prudenskaya, Adrian Sampetrean, Staatskapelle Berlin
Termine: 4./7./11.12., 19:30 Uhr; 15.12., 18:00 Uhr; 19.12., 19:30 Uhr; 22.12., 18:00 Uhr
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