Wie kriegt man handelsübliche heterosexuelle Helden dazu, ihre ritterlichen Pflichten alsbald zu vergessen? Man biete ihnen eine kichernde Horde von Schulmädchen in kurzen Röckchen an. Wer wollte diesen Reizen schon widerstehen? Das Rezept des schwarzen Magiers namens Klingsor geht gut auf. Nur beim reinen Toren Parsifal wird die Sache kompliziert. Der nimmt in den kessen Mädels zwar die Verlockung wahr („Ihr schönen Kinder“), doch erst deren in Liebesdingen deutlich erfahrenere Lehrerin Kundry kennt die Schlüsselworte, mit denen man den unbedarften Kerl kriegen kann: Sie ruft in ihm die Erinnerung an die Zärtlichkeit und die ersten Küsse wach, mit der seine Mutter ihn einst liebkoste.
Gut und Böse sind nicht mehr zu trennen
Die ziemlich konkrete Übertragung der Parsifal-Handlung in die jüngere Vergangenheit eines bedrückend grauen schulischen Ambientes funktioniert enorm gut. Und das liegt im besonderen daran, dass Regisseur Keith Warner sehr viel genauer als viele seiner Kollegen auf Text und Musik des von ihm dezidiert verehrten Richard Wagner achtet. Ihm gelingt die meist triftige Übertragung des Bühnenweihfestspiels in das weitgehend weihefreie, unwirtliche Umfeld eines unheimlichen Bunkergewölbes, das durchaus auch ein Atomkraftwerk sein könnte. Die beiden Welten des Werks – der Gralstempel in den Rahmen-Akten und Klingsors Zaubergarten im zweiten Aufzug – unterscheiden sich dabei kaum. Gut und Böse sind nicht mehr zu trennen. Die Mechanismen zweier komplementärer System ähneln sich, zumal in der brutalen Ausübung von Macht und der ideologischen Instrumentalisierung des Einzelnen. Und so inszeniert Keith Warner also gleich das doppelte Klassenzimmer. Im Gralsgebiet unterrichtet ein gewisser Gurnemanz die keuschen Knappen, jenseits im Tale herrscht Klingsor über eine verführische Damenwelt.
Auf dem Schrottplatz des Sakralen
Die Bilder, die Warner gemeinsam mit Tilo Steffens (Bühne) und Julia Müer (Kostüme) gefunden hat, sind dabei so unmittelbar einleuchtend aus dem Werk abgeleitet wie mitunter auch kitschig: Der alte Titurel hebt im Schneewittchensarg den Arm, sein Sohn Amfortas nimmt zur Linderung seiner Schmerzen im ersten Aufzug tatsächlich ein Bad, wo sich dann einen Akt später Kundry im Schaum räkelt. Wagners gewagtes Amalgam der Religionen, von der buddhistischen Wiedergeburt bis zum christlichen Abendmahl, findet sich im dritten Aufzug mit allerhand antiquarischen Resten der Weltreligionen in einer Art Schrottplatz des Sakralen wieder. Die im Karfreitagszauber verwandelte, ja erlöste Welt deutet Keith Warner dezidiert religionskritisch und mit dem ausdrücklichen Mut zur Botschaft.
Die Versöhnung der Weltreligionen in einem neuen Akt der Aufklärung?
Aus dem Grau in Grau der sehr in die Jahre gekommenen Star Trek-Gralsrittertruppe und den in Schuluniform versklavten Sexobjekten der Blumenmädchen bildet sich eine bunte neue Gesellschaft von Individuen heraus: Frauen und Männer in vielen Farben bevölkern die Bühne. Erlösung dem Erlöser? Die Versöhnung der Weltreligionen in einem neuen Akt der Aufklärung? Keith Warner traut sich ein positives Parsifal-Ende und bricht damit deutlich mit den vorherrschend pessimistischen Lesarten der letzten Jahrzehnte.
Heldentenor Erik Nelson Werner ist in der Titelpartie die Entdeckung des Abends
Auch rein musikalisch ist die Wagner-Welt in Karlsruhe mehr als in Ordnung. Justin Brown versteht sich am Pult der glänzend disponierten Badischen Staatskapelle auf das fein abgemischte Parsifal-Glühen. In den Temporelationen setzt er in den Gralsakten deutlich auf die weihevolle Seite, er lässt sich Zeit, die Schönheiten der Partitur nuancenreich auszukosten, um das dramatische Feuer im Mittelakt dann umso deutlicher lodern zu lassen. Der Deutsch-Amerikaner Erik Nelson Werner ist in der Titelpartie die Entdeckung des Abends: ein baritonal in der Mittellage fundierter, mühelos strahlender Heldentenor, der allenfalls in den Farbabstufungen zwischen reinem Toren und wissendem Nachfolger des Amfortas noch etwas monochrom wirkt. Die umwerfend intensive Kundry der Christina Niessen, der bass-schwarz böse Klingsor des Jaco Venter und der baritoneloquent leidende Amfortas des Renatus Meszar zeugen vom hohen Niveau des Karlsruher Sängerensembles. Nur ein Gast enttäuscht: Dem klug auf Wortklarheit setzenden Gurnemanz des Alfred Reiter fehlt ausgerechnet die Höhe für diese vielleicht schönste aller Bass-Partien.
Badisches Staatstheater Karlsruhe
Wagner: Parsifal
Ausführende: Justin Brown (Leitung), Keith Warner (Inszenierung), Tilo Steffens (Bühne), Julia Müer (Kostüme), Renatus Meszar, Alfred Reiter, Erik Nelson Werner, Jaco Venter, Christina Niessen, Badische Staatskapelle und Badischer Staatsopernchor