Dieses Mädchen mit den Schwefelhölzern beginnt bereits mit dem Eintreffen der Zuschauer. Vor der Frankfurter Oper, direkt gegenüber des Euro-Denkmals der EZB, hat der für seine ungewöhnlichen Raumkonzepte bekannte Regisseur Benedikt von Peter eine drei Meter hohe Skulptur errichten lassen, nach eigener Aussage etwas „zwischen Märchenpuppe und Zombie“, ein Riesen-Rotkäppchen mit fiesem Blick und schwedischen Streichhölzern in der Hand. Im Foyer sind alle Bilder abgehängt, Choristen flüstern Fragmente aus dem im Stück verwendeten Text von Gudrun Ensslin, Andersens Märchen kommt vom Band, alle Sitzgelegenheiten sind auf die bodentiefen Fenster ausgerichtet, auf den Blick auf Bankentürme. Zu diesem Zeitpunkt weiß jeder: von Peter will auf den inhaltlichen Gehalt von Andersens Märchen und Lachenmanns Musiktheater hinaus, auf Verlassenheit und Vereinzelung durch soziale Ungerechtigkeit.
Ein Traum von Nicht-mehr-einsam-sein
Wie macht man das bei einem Stück, über dessen großartige Musik nichts mehr gesagt werden muss, in dem ja aber absichtsvoll nie ein Wort zu verstehen ist und das mit Sicherheit keine Geschichte erzählen will? Der Theaterraum ist eine gemütliche, schwarze Höhle, Texte werden auf die Wände projiziert, Zuschauer tummeln sich auf der Bühne. Auf einer blauen Spielfläche über dem Orchestergraben sitzt, sich friedlich entleerend, ein Meerschweinchen. Ein Mann kommt und sieht es lange an. Es scheint ihm nicht gut zu gehen, den ganzen Abend lächelt der Mann nicht.
Er scheint in dem Tierchen einen Kameraden zu suchen, versucht es sich gefügig und gewogen zu machen und geht das mit der typischen zärtlich sein sollenden Grausamkeit des Überlegenen an. Wischt die Köttel mit einem blütenweißen Taschentuch weg, packt – scheinbar, denn das Meerschweinchen wurde monatelang trainiert – das Tier viel zu fest an, wirft sein Jackett über es und schaut, was passiert. Langsam wird der Mensch, der Schauspieler Michael Mendl, mit dem Tier vertraut, das schaut, mümmelt und sich entleert wie am Anfang. Eine subjektive Illusion von Sozialgemeinschaft ist entstanden, ein Traum von Nicht-mehr-einsam-sein, wie ihn das Mädchen in Andersens Märchen träumt.
Der Komponist selbst beeindruckt als Sprecher
Helmut Lachenmann möchte differenziertes, sich selbst reflektierendes Hören lehren, Benedikt von Peter will uns Kleinigkeiten sehen machen. Das ist spannend, trägt aber keine zwei Stunden, trotz sinnvoller Textprojektionen, trotz beeindruckenden Auftritts des Komponisten als Sprecher, trotz undurchsichtiger, aber intensiver Personenregie der beiden grandiosen Sopranistinnen Yoko Kakuta und Christine Graham. Es gibt zu viel Leerlauf, der auch mit der Niedlichkeit des Tieres gefüllt wird, das im Programmheft gar, seine theatralische Funktion betreffend, als „widerständig und autonom“ gepriesen wird.
Der Zuschauerraum der Frankfurter Oper – ein idealer Resonanzraum
Genau diese Attribute eignen Lachenmanns grandioser Partitur. Erik Nielsen, lange Kapellmeister in Frankfurt und demnächst GMD in Basel, setzt diese einzigartig um, befragt sie wie wohl kein Dirigent vor ihm auf ihre dramatische Kraft. Er scheut sinfonische und oratorische Ballungen genauso wenig wie die rätselhafte Nacktheit von Einzelton oder –geräusch, gestaltet mit unheimlichem Drive. Orchester und Chor, über der Bühne und auf den Rangseiten angeordnet, gehen begeistert mit. Zudem erweist sich der Zuschauerraum der Frankfurter Oper als idealer Resonanzraum.
Am Ende liegt der Rotkäppchen-Märchenmädchen-Gudrun Ensslin-Zombie der Länge nach vor dem Operneingang. Zuschauer stellen sich davor und machen Selfies: Glanz und Elend des Opernlebens im 21. Jahrhundert in einem Moment, in einer Aufführung.
Oper Frankfurt
Lachenmann: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
Erik Nielsen (Leitung), Benedikt von Peter (Regie), Natascha von Steiger (Bühne & Kostüme), Cinzia Fossati (Kostüme), Michael Alber (Chor), Christine Graham, Yoko Kakuta (Solo-Sopran), Michael Mendl (Schauspieler), Helmut Lachenmann (Sprecher), Tomoko Hemmi, Yukiko Sugawara (Klaviere), Mayumi Miyata (Sho), Chorwerk Ruhr, Frankfurter Opern- und Museumsorchester