Das traumverlorene Nachsinnen des Ruggiero über die verlorene, ach so trügerische Schönheit der durch Alcina verzauberten Natur ist noch ganz der barocken Distanzierung verhaftet: Die Metaphern des Händel-Hits „Verdi prati“ kennen keine Ich-Form. Christophe Rousset freilich rettet die Arie sowohl vor ihrer Schlager-Qualität als auch vor dem bloßen Ausstellen des Affekts. Gemeinsam mit der fabelhaft agilen jungen russischen Mezzosopranistin Anna Goryachova geht er das Wagnis des Leise-Musizierens ein und vollbringt so das Wunder vokaler Wahrhaftigkeit: Hier geht es nicht ums wohlige Baden im Barock-Belcanto, sondern um die Essenz einer Kunst, die bei aller Virtuosität der fein ziselierten Verzierungen in den individuell zu gestaltenden Wiederholungen der Da-Capo-Arien immer auch auf die Klangfarben des Herzens zielt.
Alcinas Arie „Ah! Mio cor“ geht in dieser Subjektivierung dann noch einen entscheidenden Schritt weiter. Wie die Königin der Verwandlungen und des Eros hier zwar noch die Götter der Liebe anruft, aber doch bereits ohne Umschweife von sich selbst singt, das weist geradewegs auf Verdi voraus. Ganz modern emanzipiert sich hier eine verlassene Frau, die sich, ihrer selbst ganz bewusst, das Alleinsein von der Seele singt: „Sola“, „allein“, wiederholt Alcina gebetsmühlenartig, so wie sich später eine Violetta mit ihrem „Sola, abbandonata“ am Rande des Abgrunds in maximaler Verdichtung des szenischen Augenblicks offenbaren wird.
Verdis Konzept der „parola scenica“ scheint hier vorweggenommen – Verstehen und Einfühlen über Kernworte ermöglichend, die sich uns jenseits aller Sprachgrenzen erschließen. Myrtò Papatanasiu färbt dieses „Sola“ so dunkel erdig ein, als sei sie eine heimliche Nachfahrin der Maria Callas. Eine über erschütterndes Charisma wie über königliche Eleganz gebietende Griechin ist auch sie, die mit ihrem wandlungsfähigen Sopran zu einem Seelenton findet, der selbst Opernverächtern das hörende Herz erwärmen muss. Sie muss in ihrer zentralen Arie niemals über ein vor Intensität berstendes mezzopiano hinausgehen, trotz des Riesensaals der Opéra Garnier tut dies auch nicht Not.
Denn Myrtò Papatanasiu weiß sich von einem Dirigenten und einem Orchester auf Händen getragen, die den Maximen der historischen Aufführungspraxis huldigen. Da wird jede rhetorisch geschärfte Phrase, jedes klangfarbliche Detail, jedes tänzerisch rhythmische Moment fantastisch ausmusiziert, ohne dabei je in einen französischen Ästhetizismus zu verfallen. Barocke Klangrede hat hier nichts mit dem Missverständnis trocken zirpender Akzente zu tun.
Roussets Händel ist eloquent, und dabei doch stets klangvoll und quicklebendig, mit einem Schuss Champagner und den Würzungen der musikalischen Kulinarik versehen. In keiner Sekunde überdeckt das groß besetzte, auf historischen Instrumenten und in niedriger Stimmung spielende Spezialistenensemble Les Talens Lyriques die Sänger, die Balance stimmt perfekt. Die Mär, ein großes Opernhaus bedürfe auch besonders großer Stimmen, wird eindrucksvoll widerlegt. Wer so stilsicher und sensibel musiziert, muss keine Strauss-Sänger für Händel engagieren, auch wenn er eine Alcina auf den Spielplan des einstmals größten Opernhauses Europas setzt.
Als Robert Carsens mittlerweile klassische Inszenierung anno 1999 erstmals im Palais Garnier zu sehen war, hatte man sich auf eine Starbesetzung, mit Renée Fleming in der Titelpartie, verlassen. Der Mitschnitt unter William Christie gilt als Referenzeinspielung, die im Vergleich zur jetzigen Einstudierung freilich fast schon zu schönheitstrunken wirkt. Denn Christophe Rousset geht deutlich radikaler und riskanter, direkter und straffer, auch architektonisch akkurater zu Werke. Seine Tempi besitzen im rachelodernden Furioso wie im melancholisch versunkenen Stocken des Herzens den wirklichen Mut zum Extremen. Bei beidem will man immer wieder den Atem anhalten, muss man mitfiebern und mitleiden.
Der Franzose schreitet auch die Skala der dynamischen Zwischenwerte vollends aus, lässt keinem Sänger stimmliche Selbstgefälligkeiten durchgehen, hat dafür mit der in allen Partien vorzüglichen Besetzung zu perfekten Ausdeutungen affektprall variierter A-Teile der so vielen herrlichen Arien gefunden. So gibt es hier denn neben den beiden Sängerinnen der Hauptpartien keine eigentlichen Nebenrollen. Fürwahr herausragend also auch: Sandrine Piau als eine herrlich quirlige, sopranbetörende, nie soubrettenspitze Zofe Morgana. Und eine Entdeckung: Der Oronte des Cyrille Dubois mit jungmännisch strahlendem Taminotenor.
Das grandiose gemeinsame Debüt von Christophe Rousset und Les Talens Lyriques im einstigen Mekka der Grand Opéra schließlich lehrt uns: Es lohnt sich so sehr, in Barockdingen die Hausorchester der Theater auch mal nach Hause zu schicken und den Verfechtern der historischen Aufführungspraxis das Feld zu überlassen. Nicht nur wegen des authentischen Klangbildes, sondern wegen der verblüffenden Modernität, die so eine alte, an Wundern reiche Partitur auf einmal entfaltet – und zu dem raren Ergebnis einer fast idealen Opernvorstellung führt.
Opéra National de Paris (Palais Garnier)
Händel: Alcina
Ausführende: Christophe Rousset (Leitung), Robert Carsen (Inszenierung), Tobias Hoheisel (Ausstattung), Jean Kalman (Licht), Myrtò Papatanasiu, Anna Goryachova, Sandrine Piau, Patricia Bardon, Cyrille Dubois, Michal Partky, Les Talens Lyriques
Termine: 30.1., 19:30 Uhr; 2.2., 14:30 Uhr; 5., 7., 9. & 12.2., 19:30 Uhr