Für Claus Guth ist „Heart Chamber“ in diesem Kalenderjahr bereits die zweite Inszenierung einer Uraufführung an einem Berliner Opernhaus. Privileg und hochkarätiger Leitungsnachweis! Nur auf den ersten Blick haben Beat Furrers „Violetter Schnee“ und Chaya Czernowins „Heart Chamber“, mit der Intendant Dietmar Schwarz die Reihe der Uraufführungen an der Deutschen Oper Berlin fortsetzt, einige Parallelen. Beide Partituren verdichten ihr weniger konkretes als assoziatives Sujet, das sich nur bedingt als dramatische Handlung bezeichnen lässt. Offene musikalische Formen zwingen zu szenischer Deutlichkeit. Selbst wenn die israelitische Komponistin Chaya Czernowin, Jahrgang 1957, ihre Darstellung einer Liebesentwicklung nicht düster meint, sind beide Partituren dunkle und an keiner Stelle hoffnungsvoll stimmende Entwürfe.
I Just Want To Say…
Nur acht schmale Seiten Text und 85 Minuten genügen Czernowin für die modellhafte Darstellung der Entwicklung einer Beziehung. Die endet in der Partitur positiv: „I love you“ sind die letzten Worte ihrer beiden letzten musikalischen Sätze „Euphorie“ und „Soft Light“. Doch wer das zu wem singt, ist offen in dieser „inquiry about love“, deren Wortfolgen sogar im Textbuch Zäsuren wie Notensysteme haben. Denn es agieren nicht nur zwei Individuen, sondern zwei Stimmpaare: Sopran und Kontra-Alt gegen Bariton und Countertenor, zwölf Solostimmen in einer Rangloge des Zuschauerraums und ein Kammerensemble. Sehr wichtig ist mit dialogischen Qualitäten der solistische Kontrabass, der auch mit einem langen ouvertürenartigen Solo das Werk eröffnet. Vier Personen agieren am Mischpult und steuern mit der Komponistin die den Zuschauerraum der Deutschen Oper durchziehenden Klänge der von der Ernst von Siemens-Musikstiftung geförderten Auftragskomposition: Die Durchdringung von perfektem Sounddesign und physischer Tonproduktion, von szenischem Spiel und dem visuellem Zuspiel von rocafilm wird zu einem Höhepunkt von dem, was in der letzten Zeit im Musiktheater an redundanter Inflation der Mittel zu erleben war. Hier macht alles Sinn.
Was bleibt? Was zählt?
Czernowin komponierte kein Requiem auf das Verschwinden der Liebe, keine soziologische Studie über den Verfall von Liebesfähigkeit und keine sentimentale Utopie gegen soziale Kälte. Ein einsames, lautes Buh zielt im während des Schlussapplauses lange noch dunklen Zuschauerraum auf die Komponistin, sonst ist die Zustimmung für alle Beteiligten eindeutig.
Im Symposium „Neues Musiktheater“ am Nachmittag, in dem auch die jüngsten Berliner Uraufführungen – Detlev Glanerts „Oceane“ und Moritz Eggerts „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ rekapituliert wurde, nannte Czernowin ihre Anliegen. Sie stellt die ontologische und nicht die konkrete Entwicklung einer Liebe dar: Erstkontakt, die Kristallisation des gegenseitigen Interesses und die intime Annäherung bis zu jener Krise, welche die Entscheidung über Bestand oder Trennung bedingt. Czernowin betrachtet die vokal-visuelle Synthese als Ziel einer musiktheatralen Gesamtleistung: Wie schon bei ihren früheren Opern „Pnima“, „Adama“ und „Infinite Now“ gibt es in „Heart Chamber“ keine klar bestimmbare Handlung, sondern Metamorphosen von Anziehung, Widerstand, Aggression und Angst über existenzielle Themen. Die nächste Inszenierung von „Heart Chamber“ kann eine ganz andere Haltung und Interaktion haben als die Realisierung durch Claus Guth, wird dann genauso richtig sein. Ihn interessieren in erster Linie die psychischen Barrieren von Figuren, die er mit Reibungen an deren Alter Egos und mit Videoprojektionen in Farbe, Schwarzweiß und symbolischer Zeichenhaftigkeit in die Szene beamt. Auf der Drehbühne hat ihm sein langjähriger Bühnenbildner Christian Schmidt eine lange Mauer, eine große Treppe und asymmetrische Fassaden gebaut, wie man sie von Scharoun und seinen Nachfolgern in Berlin zu Dutzenden findet.
Gefühle gegen den Passanten-Strom
Die Erstbegegnung: „Er“ hebt „Ihr“ etwas auf, die Annäherung beginnt in langen Videofahrten durch Westberliner Geschäftsmeilen und fast leere Räume. Am Ende wiederholt sich diese Begegnung, doch da kommt „Ihm“ ein anderer zuvor – und lässt „Sie“ dann stehen. Das letzte gesungene „I love you“ verklingt unter hastenden Passanten, möglich ist alles und nichts. Ein Moment ist der entscheidende. Bei Guth folgen dieser unwiederholbaren Chance des Annäherns diffiziles Ringen um Annäherung, Kampf gegen Übergriffe des Partners und Anfechtungen aus dem eigenen Innern. Immer wieder sind „Sie“ und „Er“ umgeben von Paaren in harmonischerer Eintracht als sie selbst – beim Candlelight-Dinner oder beim Sekt auf dem Rasen. Glücklich sind nur die anderen.
Aufregendes Koordinatensystem von pulsierender emotionaler Durchdringung und objektivierender Vereisung
Die kammerspielartigen Situationen erinnern in ihrer intimen Genauigkeit und Filigranität mehrfach an die Botho Strauß-Inszenierungen Dieter Dorns. Immer wieder dringt der Abend, der ohne die unauffällige Souveränität des erfahrenen Dirigenten Johannes Kalitzke nicht möglich wäre, in das aufregende Koordinatensystem von pulsierender emotionaler Durchdringung und objektivierender Vereisung vor. Doch was Czernowin trotz ihrer emotional ansprechenden musikalischen Haltung nicht ermöglicht, ist affektiver Gesang. Vokalisen und Textvertonungen mit getragenen Tönen in engen Intervallen bremsen auch durch die perfekte Live-Elektronik des SWR Experimentalstudios dramatische Stimmenergie aus. Die Ensembleleistung mit dem distinguierten Terry Wey und der souveränen Noa Frenkel ist erstklassig.
Wirbel von Hormonen und Erregungsimpulsen
Deshalb wirkt das Hauptpaar weit mehr durch die von Guth ausgereizte szenische Präsenz. So geht es bei ihm in „Heart Chamber“, was beides durch die Komposition plausibel wäre, weder um die Beziehungsstörungen junger Menschen im Karriere-Aufwind noch um Senioren im zweiten Lebensfrühling, sondern um emotional kindliche Best Ager mit Erfahrungstiefs und das Attraktivitätspotenzial erhöhenden Gebrauchsspuren. „Er“ und „Sie“ sind offenbar konsumbewußt, wirken wie Inhaber eines Die-Zeit-Abonnements und sind überzeugte Berliner. Aus ihren Gesichtern spricht stille, doch nicht kriselnde Melancholie. Gewinnend ist einmal mehr Dietrich Henschel, der bevorzugte Protagonist in Ruzickas „Benjamin“. Ekstatisch wird nichts in Czernowins Partitur. An Stellen, wo Gefühle über Gedanken und Bedenken siegen, hört man den Wirbel von Hormonen und Erregungsimpulsen. Wenn Patricia Ciofi einmal auf der Bühne keine belcantischen Extrempartien singt wie hier, merkt man erst recht, was für eine still-intensive Darstellerin sie ist. Wach und resignativ, eine Blickfängerin durch filigrane Gesten und einer Henschel ebenbürtigen Ausstrahlung. Diese Besetzung des Hauptpaares besiegelt den Triumph der Uraufführung.
Deutsche Oper Berlin
Chaya Czernowin: Heart Chamber
Johannes Kalitzke (Leitung), Claus Guth (Regie), Christian Schmidt (Bühne & Kostüme), Urs Schönebaum (Licht), rocafilm (Video-Design), Yvonne Gebauer, Dorothea Hartmann (Dramaturgie), SWR Experimentalstudio (Live-Elektronische Realisation), Joachim Haas, Lukas Nowok, Carlo Laurenzi (Klangregie), Patrizia Ciofi (Sie), Noa Frenkel (Ihre innere Stimme), Dietrich Henschel (Er), Terry Wey (Seine innere Stimme), Frauke Aulbert (Die Stimme), Uli Fussenegger (Der Kontrabassist), Jana Miller, Rachel Fenlon, Robyn Allegra Parton, Micaëla Oeste (Sopran), Jennifer Hughes, Anna-Louise Costello, Verena Usemann, Verena Tönjes (Mezzosopran), Martin Fehr, Wagner Moreira, Lawrence Halksworth, Hans-Dieter Gillessen (Tenor), Andrew Munn, Simon Robinson, Philipp Schreyer, Christoph Brunner (Bass), Ensemble Nikel (Ensemble), Orchester der Deutschen Oper Berlin, Statisterie und Opernballett der Deutschen Oper Berlin