Das Theater Gera war zu DDR-Zeiten eine Ballett-Hochburg, bis heute ist es das einzige Thüringer Staatsballett. Die 22köpfige Kompanie bespielt jetzt als Sparte von Theater und Philharmonie Altenburg-Gera auch die östlichste Etappe der thüringischen Städtekette. Ballettdirektorin Silvana Schröder beteiligt sich an spartenübergreifenden Themen, mit denen die Intendanz qualitativ auf Augenhöhe mit Weimar und Erfurt gegen Kulturabbau punktet. Piaf – La vie en rose, wieder eine Uraufführung, steht zwischen KeimZeit, einem Abend mit der gleichnamigen Brandenburger Band in der Reihe „Wegmarken der europäischen Geschichte“, es folgt im Juni Anita Berber – Göttin der Nacht in der Reihe „Die Goldenen 20er“. Noch nicht ist absehbar, wie sich Staatsminister Dr. Benjamin-Immanuel Hoffs Reformidee „Perspektive 2025“ auf die Kompanie auswirken wird, doch ist eines sicher: Den Bespaßungsvisionen einiger Politiker im Altenburger Land kontert man hier substanziell, die ersten drei Piaf-Vorstelllungen sind ausverkauft.
Multivisuelle Bühnenrealisierung
Der dunkelrote angeleuchtete Hauptvorhang macht schon vor Beginn Riesenlust auf Pigalle und Moulin-Rouge. Die leere Spielfläche dahinter wird alsbald ein Panorama von Bühnentraum und Elend. La vie en rose – Leben auf der rosa Wolke, Schall und Rauch! Die Nachkriegszeit lebt auf, in der Edith Piaf (1915-1963) mit ihrem Slang, ihren Amouren und Blessuren wie eine Bombe einschlägt. Auch wenn Frankreichs Moral längst nicht so spießig war wie die deutsche Nierentisch-Ära. Andreas Auerbach sorgte für weit mehr als Glamour, Deko-Accessoires, rote Mäntel für die Damen und knapp geschnittene Herrenwesten. Er verantwortet Bild- und Zitatprojektionen, die Spielräume für die Livemusiker an und in den Proszeniumslogen.
Verdoppelter Absturz
Eine richtige Multimedia-Show wird da aufgefahren für verdoppelte, dreifach gebrochene Gradwanderungen und psychische Trapezseilakte der von Silvana Schröder in zwei Personen gespaltenen Edith Piaf. Schröder zeigt in der künstlerischen Dreieinigkeit von Konzept, Inszenierung und Choreografie Löwenmut, lässt Live-Musik und Tonzuspielungen abwechseln und macht eine gestandene Musical-Sängerin zum thematischen Mittelpunkt eines großen Ballettabends. In der Premiere lacht, säuft und leidet die Tänzerin Alina Dogodinai aus dem Ensemble in verkorksten Affären – und am Leben generell. Sie tut das mit mädchenhaftem Erstaunen noch im Endstadium der Zerrüttung. Mit Kinderaugen vor einer Hölle, die in ihr steckt.
Als Gast singt Vasiliki Roussi sich parallel durch alle berühmten Piaf-Chansons: Immer heftiger werden gegen Ende die Applauskaskaden des Premierenpublikums angesichts dieser rückhaltlosen Identifikation. Die Mimik, der Hilferuf aus den Augen, der übers Gesicht verschmierte Lippenstift – Roussi ist viel mehr als eine Piaf-Inkarnation. Sie hat die Töne des historischen Vorbilds in der Kehle und im Verstand. Sie röhrt, skandiert und röchelt, als ginge es an ihre eigene Existenz. Aus dem dokumentarisch erschlossenen Skelett von Erinnerungen modelliert sie ein in seiner Fahrigkeit faszinierendes Wesen. Labil, ordinär, charismatisch!
Fade Männer, viel Frust und Komasaufen
Vasiliki Roussi spielte die Piaf bereits im Schauspiel mit Musik von Pam Gems, das gibt ihr einen gewaltigen Vorsprung zum Darsteller-Potential der Kompanie. Ihre Gegner aus dem Ballett sind dagegen Männermasken und -hülsen, keineswegs ernsthafte Konkurrenz oder reelle Bedrohung von Piafs labiler Psyche. Die eine Piaf singt Mon manège, à moi. Daneben überflutet Katzenjammer die andere – die Tänzerin, wieder ist ein Kerl über alle Berge. Wer da Freund ist, wer Liebhaber, wer flüchtiger Gespiele – das unterscheidet sich nicht so einfach. Die Männer in der „chronique amoreuse“ sind das Feuer offenbar nicht wert, das Piaf wie eine an beiden Enden brennende Kerze verzehrt. Nicht, weil die Herren des Thüringer Balletts das nicht könnten, doch niemand verlangt ihnen das ab. Nur Kristian Matia als Boxer Marcel Cerdan, an dessen Tod bei einem Flugzeugabsturz Piaf wie in der Historie zerbricht, erhält andere Tiefenlotung.
Cerdan und Piaf liegen am Beginn ihrer kurzen Begegnung gekreuzt. Er winkelt seine Beine über den ihren, dieses choreografierte Bild lässt Intimität und Vertrauen strömen. Darauf setzt eine wenig von den anderen Männerepisoden differenzierte Bewegungsfolge ein. Diese Monotonie frustriert nicht als Wiederkehr der immer gleichen Aussichtslosigkeit. Sie erzählt wenig von innerer Ödnis, der Moment bleibt isoliert von den Spiraldrehungen in den Kollaps. Dagegen steigern sich die Alkoholexzesse von erst einer Flasche mit Männerherde, dann einer mäßig bestückten Bar als Ersatz für einen geflohenen Liebhaber und schließlich einem mit etwa 200 Flaschen dekorierten Revuevorhang ganz ohne Kerl. Ein abendfüllendes Gruppenbild mit Dame im Kontrollverlust.
Spannende Dramaturgie mit Löchern
Silvana Schröder hat viel untergebracht. Piafs intime Freundin Momone (Daria Souzi) darf ebenso wenig fehlen wie die Eltern: Der Akrobat (Yi Han) und die Straßensängerin (Sayo Yoshida) zerren an sich und der Tochter, bis sich Edith ins vermeintlich besseres Leben davonmacht. Gegen Ende kommt noch Marlene Dietrich (Carolina Micione) ins Geschehen, die den Star-, Licht- und Lebensrummel besser überstehen wird als Piaf. Zwischen dem neoklassischen Bewegungsvokabular und gestisch-dramatischen Momenten stauen die Motivationen im Niemandsland von Phantasie, Wirklichkeit, Dokumentarspiel und Psychokoller. Ensembleformationen und solistische Attacke verzahnen sich kaum.
Das ändert nichts am guten Gesamteindruck durch das verdichtete Zusammenwirken aller theatralen Mittel. Spannend gelingt der Wechsel zwischen Zuspielungen und Live-Musik mit der „klassischen“ Chanson-Besetzung Flügel, Bass, Akkordeon und Geige. Vom Band tönen Charles Aznavour und Georges Moustaki wie von einem unbekannten Männer-Planeten in das Desaster der Protagonistin. Die Gruppenszenen bringen weitere Farben ins Spiel, unterscheiden dabei kaum zwischen Gosse und Establishment. Die kultivierte Kompanie dürfte manchmal ihre etwas zu gute Erziehung vergessen.
Piaf wird im Finale zur Ikone ihrer selbst. Vor dem knallroten Hauptvorhang setzt Roussi an zu Non, je ne regrette rien, schreitet dann unter einem Rosenspalier des Ensembles erst in die Bühnentiefe und dann ins Jenseits. Eine fast romantische Apotheose: Kunst und Ruhm als Allheilmittel gegen Liebeskummer, Elend, Frust.
Theater und Philharmonie Altenburg-Gera / Thüringer Staatsballett
Schröder: Piaf – La vie en rose
Silvana Schröder (Künstlerische Gesamtleitung), Andreas Auerbach (Bühne, Kostüme, Video), Maud Wachter-Trémeau, Marian Anton (Ballettmeister), Karin Schneider (Künstlerisch-organisatorische Mitarbeit), Vasiliki Roussa (Edits Piaf, Gesang), Alle Tänzerinnen und Tänzer des Thüringer Staatsballetts übernehmen in dieser Produktion in wechselnden Konstellationen Solo- und Gruppenrollen, Masako Katani-Dorsch (Flügel), Peter Nelson / Ulrich Müller (Bass), Claudia Buder/ Josie Schneider (Akkordeon), David Castro-Balbi (Violine)