Beweisen muss er niemandem mehr etwas: weder Publikum noch Presse, weder den Diskurswächtern der Neuen Musik noch sich selbst. Dieter Schnebel, der 84-jährige einstige Pastor und Professor, Forscher und Schöpfer einer experimentell antimodischen Avantgarde, in der er mit Vorliebe ungeahnte Möglichkeiten vokaler Verlautbarungen erprobte, er komponiert heute im allerbesten Sinne altersweise. Gerade einmal fünf Instrumente benötigt er, um einen flageolettzaubrigen, sensibel perkussiven Farbenreichtum zu evozieren, der unmittelbar berührt. Da gibt es avancierteste Klänge – doch die atmen eine heilige Einfachheit. Und was er den sechs Sängern der Neuen Vocalsolisten Stuttgart an vokaler Variabilität abverlangt – zwischen geräuschhaftem Wispern, gewitzter Textdekonstruktion und dann immer wieder verständlicher Vermittlung von Botschaft, das hat die Selbstverständlichkeit und Leichtgängigkeit des Altmeisterlichen.
Schnebels Neue Musik erinnert sich der Archaik
So komplex viele dieser klanglichen Findungen im Einzelnen sein mögen, so zugänglich treffen sie das Ohr: Volksliedhaft Gassenhauerndes, choralähnlich Marschmäßiges mischt er wie ein verschmitzter Kurt Weill der Gegenwart seiner feinnervig frischen Partitur bei – musikalisch magische Momente, Beschwörungsformeln, eigentümlich Geheimnisvolles rühren an diesem Musiktheater-Abend an menschliche Grundkonstellationen heran, wie sie der Oper, zumal in ihrer Entstehungs- und ersten Blütephase in Renaissance und Barock eigen waren: Affekt-Archentypen werden da verhandelt, statt von der Handlung individueller Emotionen zu erzählen. Schnebels Neue Musik erinnert sich der Archaik, sie weiß um rhetorische Figuren, um tristaneske Septakkorde ohne Auflösung, sie ist beseelt von dionysischem Eros, der freilich nicht in der Überwältigung, sondern im seltsam konkreten In-der-Schwebe-Lassen seine Wirkung entfaltet.
Ja, diese Musik hat Magie. Diese Musik besitzt das Potenzial zur Transzendenz: Utopien heißt dieses „musikalische Kammertheater“ denn auch. Ein bekennender „Blochianer“ ist Dieter Schnebel. Hatte der präferierte Philosoph des Komponisten in der Musik einst die utopischste aller Künste entdeckt, so macht sein Anhänger diese grenzensprengende Kraft zum Thema seiner Oper. Texte nicht nur von Ernst Bloch, auch von René Descartes, Thomas Morus oder Joseph Conrad sind bruchstückhaft zu hören, Bibelworte hat der Komponist selbst für die Aufführungen eingesprochen. Die Trias des Apostels Paulus dient als dialektisches Gerüst des Abends: Glaube, Hoffnung, Liebe und ihre Gegenpole von Verzweiflung und Hass prägen die Dramaturgie.
Kurzweilig mit ironisch feinem Humor
Herausgekommen ist zum Glück weder ein philosophisches Hauptseminar noch ein christliches Bekehrungstheater mit den Mitteln der Musik. Seine pastorale Prägung dennoch nie leugnend ist Schnebels Bekenntnis ein gleichermaßen gegenwärtiges wie zeitloses: Hoffnung und Zweifel, Erlösungsehnsucht und Zerstörung, Gemeinschaft und Vereinzelung werden nicht als letzte Wahrheiten präsentiert, Utopien nicht als Ziel, sondern als Weg erfahrbar gemacht. Die Sängerinnen und Sänger umkreisen einen an die Kaaba von Mekka gemahnenden Kubus, einen Würfel der großen und kleinen szenischen Wunder, den Regisseur Matthias Rebstock im Stile jenes Kasperletheaters für Erwachsene, wie es auch ein Achim Freyer pflegt, mit allerhand humorigen Ideen und ganz im Sinne des auf Abstraktion zielenden Schnebelschen Bewegungs- und Körpertheaters begehbar macht.
Genau wie in der Musik mit ihrer sanften Schönheit erfährt Alles seine leichthändig relativierende Bestätigung durch ironisch feinen Humor. Man hätte eigentlich noch eine kleine Ewigkeit länger als die tatsächlichen 85 Minuten zuhören und zuschauen mögen. Womit Dieter Schnebel und sein Team dem utopischen Augenblick eine verblüffende Dauer verliehen haben. Was könnte das Musiktheater mehr leisten?
Münchener Biennale – Muffathalle
Schnebel: Utopien
Matthias Rebstock (Regie), Sabine Hilscher (Bühne und Kostüme), Roland Quitt (Dramaturgie), Neue Vocalsolisten Stuttgart
Weitere Termine im Konzerthaus Berlin: 29. & 30.5., 1.6., im Theaterhaus Stuttgart am 4.6.