Wir können ihn nicht mehr fragen, welche Zukunft er der Oper wünscht. Gerard Mortier verstarb am 9. März mit nur 70 Jahren. Doch das messerscharfe Denken und kompromisslose Wirken des bedeutendsten Opernintendanten der letzten 30 Jahre ist eindrucksvoll belegt – durch unzählige von ihm initiierte Inszenierungen, seine Konventionen sprengenden Spielpläne in Brüssel, Salzburg, Paris, Madrid und der von ihm begründeten Ruhrtriennale, durch die Regieteams, die er formte und denen er auch nach einem gelegentlichen Flop noch vertraute. Und es gibt ein Vermächtnis, das nur wenige Tage nach seinem Tod erschien: Mortiers kleiner feiner Band „Dramaturgie einer Leidenschaft“. Darin ist sein Bekenntnis zu einem nie nur kulinarischen Musiktheater in eindringlicher wie einfacher Sprache dargelegt.
Natürlich sei auch Unterhaltung ein Element, eben ein Mittel des Theaters, allerdings sei es nicht sein Zweck. Mit gar nicht altersweisem Furor frotzelt der belgische Intellektuelle gegen die „Hooligans von Opernfreunden“, die Buh rufen, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt würden. Er kanzelt Karajans Kunstkommerz ab und erklärt, warum er mit der Übernahme der Intendanz der Salzburger Festspiele die Diktatur der Plattenproduzenten zu Gunsten der unabhängigen inhaltlichen Arbeit und dem besonderen Fokus auf neue Schöpfungen brechen musste. CDs und DVDs sollten seiner Meinung nach der Dokumentation modellhafter Interpretationen und der Verbreitung weniger bekannter Werke dienen und nicht der gewinnorientierten Produktion des immergleichen Standardrepertoires.
Das 20. Jahrhundert birgt die meisten Meisterwerke
Ebenso provokant ist Mortiers These, dass die Anzahl der wahren Meisterwerke im 20. Jahrhundert wesentlich höher sei als jene des 19. Jahrhunderts, „mit dem Unterschied, dass diese Meisterwerke trotzdem nur sehr schwer Eingang ins Repertoire finden.“ Er folgert: „Die Fortsetzung einer Spielplanpolitik, die sich im Wesentlichen dem 19. Jahrhundert oder der Wiederentdeckung von zu Recht vergessenen Opern widmet, wird der Zukunft der Oper ernsthaft schaden.“ Dass der Anteil des Neuen in den Spielplänen allenfalls 15% und nicht, wie von ihm als angemessen angesehen, 50% ausmacht, sei allerdings auch Schuld der Komponisten selbst, deren abgehobenes Nachdenken mitunter zum Selbstzweck verkommen sei.
Die lustvolle Verführung der Menschen zur Begeisterung am bislang Unerhörten kann indes sehr wohl gelingen, wie der gewiefte Kulturmanager selbst in Hochburgen einer konservativen Opernpflege, so in Madrid oder Paris, bewiesen hat. Entscheidend helfen würden hier thematisch fokussierte Kontexte, die der Spielplan-Dramaturgie ein Gesicht und dem neuen Hören und Sehen eine Chance bieten. So ließe sich mit der Losung „Deutsche Romantik“ weitgehend vergessenen Opern wie Genoveva von Schumann, Oberon von Weber, Fierrabras von Schubert oder Undine von Hoffmann neues Leben einhauchen.
Sänger bleiben zentrale Kraft der Oper
Durchaus kokett bestreitet Mortier, der das Wirken von Schauspielregisseuren wie Bondy, Marthaler und Strehler für die Oper fruchtbar gemacht hat, der „Mann des Regietheaters“ zu sein, und erklärt die Sänger zur zentralen Kraft der Oper: „Es ist der Gesang, in dem sich die Seele spürbar ausdrücken kann. Das bedeutet, dass die Stimme Dienerin der seelischen Verfassung sein muss und dass Dirigent und Regisseur die Sänger dazu bereit machen müssen.“ Erfolgsgarant sei hierbei die „Entente cordiale“ der Produktionsteams, wie sie im Falle des Bayreuther Rings von 1976 idealtypisch in Pierre Boulez und Patrice Chéreau verkörpert gewesen sei. Für die Zukunft sieht Mortier besonders bildende Künstler in der Verantwortung, als Erfinder von theatralischen Orten den Sängern Raum zur Entfaltung „für diesen Ausdruck der Seele“ zu geben. Tristan und Isolde mit den Bildern von Bill Viola in der Regie von Peter Sellars sei für ihn das perfekte Beispiel hierfür. Rolf Liebermann, der einst Chagall Die Zauberflöte ausstatten ließ, sieht Mortier als sein Vorbild des Intendanten als Entdeckers an, wenn es gelte, Sänger zur Interpretation für sie neuer Rollen zu bewegen.
Wenn Mortier die im aktuellen Operndiskurs angesagte „Virtuosität des Verkaufs“ anprangert und stattdessen die „Innovation der Spielpläne“ anmahnt, spart er die Analyse der sich zuspitzenden Finanzierungsprobleme und das Aufzeigen von Auswegen auf. Ein Wort zur Kulturpolitik vermisst man. Seine von Humanismus, Freiheitswillen und echten Überzeugungen geprägtes Plädoyer für das Wunderland des „Dramma per musica“ weist umso entschiedener in die Zukunft.