Die Semperoper führt nicht gerade die Liste der innovativsten Musiktempel in Deutschland an – wozu auch, füllen doch vor allem Touristen den plüschigen Bau. Umso spannender sind die Programme, die immer wieder auf der Probebühne „Semper II“ an der elbseitigen Peripherie mit eher abseitigem Repertoire experimentieren. Ein Auftragswerk gar hatte jetzt Premiere: Manos Tsangaris, ab 2016 als Nachfolger Peter Ruzickas Chef der Münchener Biennale, hat sich lange gewundert, warum das widersprüchliche Leben des sächsischen Möchtegernhelden Karl May nie auf die Opernbühne kam. Auf ein Libretto von Marcel Beyer, vielgekrönter Dichter, fügte er zwölf biografische Szenen zusammen, die skizzenhaft vor allem die Zerrissenheit des wohl erfolgreichsten Abenteuergeschichtenerzählers im 19. Jahrhundert thematisieren: Karl May, Opfer seines phantasiegeborenen Größenwahns, stets selbst erlebt haben zu wollen, was er literarisch verarbeitete, scheiterte letztlich am Konflikt zwischen Ehrgeiz, Geltungssucht und Selbstzweifeln.
Neben der zweifelhaften künstlerischen Qualität war dies lange bekannt, auch wenn es Karl May-Freunde nie sonderlich störte: Sie abstrahierten die Geschichten vollständig von ihrem berufsspinnerten Urheber. Was nun die einstündige Kammeroper mit dem Untertitel „Raum der Wahrheit“ an Neuigkeiten erzählen will, bleibt auch nach ihrer Uraufführung das Geheimnis des Autorenduos. Eine Handlung im eigentlichen Sinne existiert nicht, vielmehr werden aus Versatzstücken des auch außerberuflich ungemein fleißigen Schreibers markante Vokabeln herangezogen, um Karl Mays zwiespältiges Verhältnis zur Wahrheit oder wenigstens Wahrhaftigkeit zu ergründen. Gelingen kann dies nur bedingt, denn die rein assoziativen Schlaglichter kommen am Ende doch recht verkopft daher. Fast alle Figuren sind ihrer dramaturgischen Funktion enthoben, sie bilden lediglich einen vielfältigen Chor von Stichwortgebern und Kommentatoren.
Pseudoindianische Traumwelt
Ohne Erkenntnisgewinn bleibt die Oper dennoch nicht, denn der interessanteste Aspekt daran ist, dass schon zu Lebzeiten Karl Mays die reine Fantasie, die aus Geschriebenem Bilder im Kopf erzeugt, durch das neue Medium Film bedroht war. Seine Kreationen überlebten zwar den Übergang von der Fiktion als Stimulans zur konsumtiven Verbildlichung, aber sein Arbeitsprinzip war konterkariert.
Natürlich hat das Stück mit den Werken Karl Mays gar nichts zu tun, aber seine pseudoindianische Traumwelt bildet es dennoch ab. Um das in der Mitte platzierte Kammerorchester aus Mitgliedern der Sächsischen Staatskapelle und ihrer Akademie haben Okarina Peter und Timo Dentler eine quadratische Bühne gebaut. In der Außenkurve sitzt das Publikum vor einem monströsen Präriegemälde, hinter dem immer wieder Instrumente und Protagonisten durchscheinen. Indianerkostüme bedeuten das Einssein von Fantasie und Realität im Leben einer wohl tragischen Figur.
Lediglich ein Einpersonenporträt
Tsangaris führt in seine lautmalerische Musik viele Geräusche ein, das Schwergewicht liegt auf dem Schlagwerk, das selbstredend den Sound der wilden Natur imitiert. Auch die Protagonisten müssen dementsprechend oft ihre eher rezitativisch begrenzten Töne wieder in Sprechgesang überführen oder gleich ganz reden. Wenn Sänger vor allem als Darsteller gefordert sind, erschwert häufig ein großes Erfahrungsgefälle eine in sich runde Leistung. Das ist in Karl May kein Problem, wobei insbesondere Romy Petrick als Mays zweite Frau Klara Plöhn und Julian Arsenault als ergrauter Autor die Riege anführen. Erik Nielsen führt die schwere Partitur vom Pult aus mit absoluter Hingabe und Überzeugung, auch wenn der zusammengekaufte Projektchor dann und wann seinen Aufgaben nicht gewachsen ist.
Bleibt die Frage, ob man nun aus dem Stoff, der bei Lichte betrachtet lediglich ein Einpersonenporträt ist, zwingend eine Oper machen muss. Das wird je nach Anspruch an die Kunst jeder anders beurteilen. Aber es ist immer noch besser, ein Konzept in Frage gestellt zu sehen, als überhaupt keine Experimente mehr zu wagen.
Sächsische Staatsoper Dresden
Tsangaris: Karl May
Ausführende: Erik Nielsen (Leitung), Manfred Weiß (Inszenierung), Okarina Peter, Timo Dentler (Ausstattung), Valeska Stern (Dramaturgie), Julian Mehne, Rainer Maria Röhr, Julian Arsenault, Julia Mintzer, Romy Petrick, Sächsische Staatskapelle Dresden
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