Eine Viertelstunde vor Schluss explodiert der Laptop und Nekrotzar kippt vom Stuhl. Denn er war nichts als ein Computergeschöpf, erdacht vom Nerd Piet vom Fass auf einer Internet-Spiele-Plattform. Diese durchaus charmante Idee bekommt der Essener Inszenierung leider gar nicht. Ligetis zeitlos moderner, so sahnig-absurder Geniestreich über Todesangst und Lebenslust an sich bedarf einfach keiner Modernisierung. Vor allem, weil die ohnehin kaum schlüssige Erzählweise so weitere, unnötige Löcher und Ecken bekommt. Und weil Nekrotzar, das herrlich weltfremde Weltuntergangsbestimmer-Monster auf diese Weise zum schmierig-charmanten Bösewichtel zusammenschnurrt. Wodurch die Aufführung ihr Zentrum verliert.
Wenn die Musik orgasmiert, bahnt sich ein Phallus den Weg durch den Barock-Chiffon
Ansonsten führt Mariame Clément ihr Personal kundig, hochmusikalisch und mit vielen sehr produktiven Einfällen. Einer der schönsten ist es, das Liebespaar, das im erotischen Rausch die komplette Handlung verpasst, zu gewanden, als wären Octavian und Sophie Otto Schenks berühmter Rosenkavalier-Inszenierung entflohen. Wenn dann die Musik zu orgasmieren beginnt, bahnt sich ein Phallus den Weg durch den Barock-Chiffon, der dann von beiden eifrig „bespielt“ wird. Elizabeth Cragg und Katrin Strobos, die beide himmlisch singen, machen das mit einer derart unschuldigen Entdeckerfreude, dass man ihnen nicht einen Moment böse sein kann, dass man im Gegenteil wetten möchte auf die reinigende Kraft des Eros.
Im Oval Office kommt Politsatire fröhlich als Weltuntergangs-Ohnsorg-Theater daher
Am schönsten gelingt das dritte Bild. Hier hat Julia Hansen in ihre Einheits-Greenbox ein allerliebstes Modell des Oval Office hineingestellt. Der fette König sitzt am Präsidententisch und seine Minister wirken verdächtig wie Merkel und Cameron. Hier stimmt das Timing, kommt Politsatire fröhlich daher als Weltuntergangs-Ohnsorg-Theater. Das weitet sich dann sogar zum faszinierenden Klang-Raum-Erlebnis. Da singt der fantastische Chor seine Parolen und Angst-Sottisen erst im Oberrang, dann im Parkett, ragt sogar körperlich in die Sitzreihen hinein. An den Parketttüren und auch sonst an allen hörbaren Plätzen im Theater tummeln sich plötzlich musizierende Instrumentalisten, und Statisten in Ministrantenuniformen durchziehen den Zuschauerraum. Und ganz am Ende entsteht sogar wirklich „Breughelland“, entwickelt sich ein kleines Spektakel aus einem Original-Genregemälde, bevor ein ganz keusches Gruppenbild mit nacktem Paar im leeren Raum ein merkwürdig optimistisches Ende konturiert.
Die musikalische Seite gleicht einem Ruhmesblatt für das Aalto-Theater
Musikalisch ist die Aufführung ein absolutes Ruhmesblatt für das Aalto-Theater. Dimo Slobodeniouk, ausgewiesener Spezialist für Modernes, hat mit Chor und Orchester vorzüglich gearbeitet. Schon die Autohupen- und Fahrradklingelvorspiele packen durch ihre absurde Brillanz. Dazu ist das Sängerensemble auf sehr hohem Niveau homogen. Herausragend der Ensemble-Veteran Rainer Maria Röhr als computersüchtiger Piet und Susanne Elmark als Geheimdienstchef Gepopo – hier eine Art Roboter – mit furiosem Koloratursopran. Jake Arditti kleidet den fetten Fürsten in einen wunderbar frischen Countertenor, und Heiko Trinsinger ist ein gewaltiger Nekrotzar, auch wenn ihm, vielleicht inszenierungsbedingt, die Verführungskraft der Macht abgeht.
Ligetis so drastische wie sinnliche wie verrückte Anti-Anti-Oper jedenfalls ist gut 35 Jahre nach ihrer Uraufführung wohl endgültig beim Publikum angekommen, wie die enthusiastische Reaktion der Essener bei der Premiere deutlich zeigte.
Aalto-Theater Essen
Ligeti: Le Grand Macabre
Dima Slobedeniuk (Leitung), Mariame Clément (Inszenierung), Julia Hansen (Ausstattung), Heiko Trinsinger, Rainer Maria Röhr, Tijl Faveyts, Ursula Hesse von den Steinen, Susanne Elmark, Jake Arditti, Jeffrey Dowd, Karel Ludvik, Elizabeth Cragg, Karen Strobos, Opernchor des Aalto-Theaters, Essener Philharmoniker
Weitere Termine und Infos zum Aalto-Theater Essen finden Sie hier.