Früher war alles besser. Callas und Caballé, Domingo und del Monaco, Konya und Kollo besaßen die Stimmen, die man für Verdi und Wagner brauchte. Aber heute einen Otello oder einen Tristan zu finden, der den Strapazen und den Schönheiten der jeweiligen Partie gerecht wird, gleicht einem Unding. Doch schon Verdi selbst schrieb 1875 an seinen Verleger Giovanni Ricordi: „Nie, nie, nie ist es jemandem gelungen, alle von mir beabsichtigten Effekte herauszubringen. Niemandem! Nie, nie – weder Sängern noch Dirigenten.“ Auch der deutsche Antipode des Maestros fand für sein Ideal eines „vaterländischen Belcanto“ immer nur wenige Sängerpersönlichkeiten, die seinen enormen Anforderungen entsprachen. Die großen Erneuerer des Musiktheaters hatten dem reinen Schöngesang abgeschworen, in ihrer Psychologisierung des Belcanto rangierte für beide Antipoden die Wahrheit vor der Schönheit.
Enrico Caruso und das Goldene Zeitalter
Im Zuge des Verismo, dem Einbruch des Naturalismus in die Welt der Oper, wie er in Puccinis Tosca idealtypisch verwirklicht ist, entwickelten sich um 1900 dann tatsächlich Generationen von Sängern, die den gewachsenen Anforderungen gerecht wurden. Der Tenorissimo Enrico Caruso steht für ein Goldenes Zeitalter, aber auch die Wagner-Helden nach der Jahrhundertwende, allen voran Lauritz Melchior, setzten um, was der Gesamtkunstwerker sich erträumt haben mochte. Im Zuge der Neubayreuther Bühnenentrümpelung nach dem Zweiten Weltkrieg prägten Sängerdarstellerinnen wie Martha Mödl und Birgit Nilsson die Wagner-Interpretation. Pavarotti & Co brachten derweil die Verdi-Welt in Salzburg bis New York mit betörendem erotischem Stimmglanz zum Strahlen.
Der Fall Villazón ist keine Erklärung der Verdi-Krise
Und dann kam die Krise? Die im Verdi-Fach derzeit noch düsterer schwelt als bei Wagner? Nach Domingos Abstieg in die endlich hohes-C-freien Baritonregionen ist ein Otello an den Metropolen nur noch mit Kompromiss-Kandidaten besetzbar. Die Premiere des Spätwerks zum 200. Verdi-Geburtstag an auch nur einem der führenden Opernhäuser ist kaum zufällig eine Fehlanzeige. Hier ließe sich Villazóns Erkrankung nach jahrelanger Überforderung mit kräfteraubenden Verdi-Eskapaden und seine Rückkehr zu Donizetti nebst Entdeckung Mozarts als Stimmheiler anführen. Der Fall Villazón ist freilich nur ein Phänomen, keine Erklärung der Krise des Verdi-Gesangs.
Aufschlussreich scheint, den Blick auf die Besetzungsmöglichkeiten von Barock- und Belcanto-Opern zu richten. Hier können Disponenten jubelnd aus dem vokalen Vollen schöpfen. Denn mit der Wiederentdeckung der Opern von Händel und Rossini haben sich koloraturwendige Sängerinnen und Sänger entwickelt, die es möglich machen, Vivaldi wie Bellini nahezu perfekt zu besetzen. La Bartoli machte den Anfang und legte die Stimmlatte extra hoch, die von einer Joyce DiDonato mühelos übersprungen wird. Auch die Auswahl exzellenter Countertenöre ist längst atemberaubend. Spezialisten machen den Markt aus, keine Allrounder mehr, die wie einst eine Maria Callas von Bellini bis Wagner alles sangen. Verdi-Spezialisten aber sind rar. Eine Erklärung dafür liegt im gefährlich rasanten Tempo, in dem sich Sängerkarrieren zu entwickeln haben. Die natürliche langsame Reifung zu einer großen runden, in der Mittellage fundierten und gleichwohl in der Höhe agilen und leuchtenden Verdi-Stimme lassen Agenten und Intendanten kaum noch zu. Angesichts des Mangels geeigneter Kandidaten beuten sie unfertige Talente unbarmherzig aus. In der Sängerauswahl schiebt sich oftmals ein Kriterium in den Vordergrund, das keineswegs hinreichend für das erfolgreiche Bestehen als Abigaille oder Aida ist: das Aussehen. Der Tenor, der den leidenschaftlichen Liebhaber Don Carlo gibt, sollte doch bitte auch so jugendlich aussehen, wie Damen sich einen solchen vorstellen.
Mitschuld des Regietheaters
Eine Mitschuld an der Misere trifft das sogenannte Regietheater mit seinem Zwang zur „typgerechten“ Besetzung. Ja, die Dominanz des Visuellen hat in den vergangenen drei Jahrzehnten andere, zumal die musikalischen Parameter marginalisiert. Das Eindringen fachfremder Schauspiel- oder Filmregisseure ins Musiktheater und der schon sprichwörtlich werdende Küchenrealismus vorherrschender Regiediskurse haben nicht nur eine neue gesellschaftliche Relevanz des Musiktheaters bewirkt. Zu oft wurden und werden große Verdi-Gefühle bloß verkleinert, statt sie sinnstiftend zu vergegenwärtigen. Zieht nach dem Zeitalter der Regisseure erneut eine Epoche des Sängertheaters auf? Wenn das Verdi-Traumpaar Anja Harteros und Jonas Kaufmann seine Fans verzückt, wenn Anna Netrebko an der Berliner Staatsoper erstmals als Verdis Troubadour-Leonora, und bald in München sogar als Lady Macbeth zu erleben ist, dann verschiebt sich der Faszinations-Fokus längst wieder auf die singenden Menschen. Allein: Es fehlen mehr profund professionelle Protagonisten von Format, die den komplexen Charakteren des Giuseppe Verdi mit ihrem Gesang und ihrer darstellerischen Intensität glaubwürdiges Bühnenleben einhauchen könnten.