Ein Musikwissenschaftler hat kürzlich vorgerechnet, dass – auf die ganze Operngeschichte bezogen – nicht mehr als drei Prozent der uraufgeführten Werke über den Ort ihrer Premiere hinaus an weitere Bühnen gelangt sind. Als Erfolgskriterium eines Uraufführungs-Festivals wie der Münchener Biennale gilt gleichwohl das Weiterleben der neuen Werke in den Stadt- und Staatstheatern – das Neue wird zum Repertoire. Peter Ruzicka, der die Leitung des in seiner Ausrichtung einzigartigen Festivals für zeitgenössisches Musiktheater innehat, resümiert, welchen Beitrag die Biennale als Labor einer Oper der Zukunft leistet, welche Bedeutung allein schon der Diskurs unter den beteiligten Künstlern besitzt, welche Grenzen es aufzubrechen gilt und welche er gleichwohl gewahrt wissen will.
Experiment, Erprobung, Erfahrungsaustausch
Nicht ohne Stolz stellt er fest, dass rund die Hälfte der auf der Biennale aus der Taufe gehobenen Opern ein Fortleben haben. Werke wie Bremer Freiheit von Adriana Hölszky, Greek von Mark Anthony Turnage, Marco Polo von Tan Dun oder Wasser von Arnulf Herrmann sind in die jüngere Musiktheatergeschichte eingegangen. „Unabhängig von ihrer jeweiligen stilistischen Prägung waren dies Werke, deren besondere theatralische Qualität, deren ästhetischer Überschuss sich ganz unmittelbar auch einem nicht spezialisierten Publikum nachwies.“
Trotzdem wirkt die Biennale in ihrem intellektuellen Anspruch auf viele Opernfreunde oftmals eher als Messe der Musiktheater-Macher. Ein Widerspruch?
Ruzicka erklärt ihn: „Schon Hans Werner Henze, der die Münchener Biennale 1988 gründete, wusste ja aus eigener Erfahrung, dass die relative Distanz von Oper und Avantgarde auf Gegenseitigkeit beruhte, und dass international ein Laboratorium fehlte, das jungen Komponisten die Theaterwelten im Experiment, in der Erprobung, im Erfahrungsaustausch mit älteren Kollegen hätte erschließen können.“ Henze wie Ruzicka ging es somit darum, ihren jüngeren Kollegen, die sich trotz Berührungsängsten erstmals ans Musiktheater wagen wollten, ein Forum zu schaffen, um ihre Werke im Stadium der Entstehung zu diskutieren, bei der Vorbereitung der Inszenierung im Zusammenspiel mit anderen Medien und Künstlern zu prüfen, und sie schließlich in ersten Aufführungen dem Publikum und der (Fach-)Kritik vorzustellen. „Dem Festival war deshalb von vornherein eine doppelte Blickrichtung eigen: diejenige auf die Rezeption und diejenige auf die Entstehung musiktheatralischer Kunst. Daher bestand auch von vornherein Konsens darüber, dass das gelungene Werk, das von München aus den Weg an Operntheater in aller Welt antritt, zwar stets das zu erstrebende Ziel, aber keinesfalls das einzige Erfolgskriterium sein kann.“
Rückblickend hat die Biennale immer wieder Anstöße für eine nachhaltige Weiterentwicklung der Oper gegeben: „Bei manchen Festivaljahrgängen war der experimentelle Überschuss der Produktionen von vornherein so stark, dass der Weg wichtiger schien als das Ziel, etwa 2002, als wir die Neuen Medien für uns entdeckten und das Musiktheater, immer schon ein Aktionsfeld virtueller Realität, als multimediales Ereignis zum Gegenstand des ästhetischen Experiments machten.“ Ruzicka stellt hierbei klar, das der im Experiment gewonnene Erfahrungsgewinn damals wichtiger gewesen sei als der Wunsch, Repertoire zu bilden. „Im letzten Jahrzehnt stand bei den Biennale-Uraufführungen der Aspekt von Entgrenzungen des Musiktheaters im Vordergrund. Vielfach waren es Werke, auf die herkömmliche ästhetische Maßstäbe nicht ohne weiteres anwendbar sind, die aber gerade dadurch zum Kern des Genres ‚Oper‘ zurückführen. Ich halte die Befragung scheinbar ‚eherner Gesetze des Theaters‘ für ein notwendiges Anliegen eines Festivals für Neues Musiktheater. Die Oper muss sich stets wieder aus sich heraus erneuern.“ Also weniger durch Blutzufuhr von Außen, denn durch eigene Kraft?
Musiktheater im U-Bahn-Schacht?
Der Innovationsdrang der Gegenwart, das Aufeinanderprallen kultureller Traditionen in der an Tempo gewinnenden Globalisierung scheint für eine Oper der Zukunft einschneidende Veränderungen zum althergebrachten Geschichtenerzählen zu erfordern. So auch ganz neue Räume abseits der Opernhäuser? „Es mag sein, dass ich in diesem Punkt eher konservativ denke. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte hat uns gelehrt, dass die Konzentration, die Einlassung und damit die Identifikation des Publikums in herkömmlichen Theaterräumen eine unverzichtbare Voraussetzung für ästhetische Kommunikation ist. Musiktheater in einem U-Bahn-Schacht oder einer Flughafen-Lounge wird immer etwas bloß Episodenhaftes haben, ein rasch vergessenes Event sein.“
Das von der Münchener Biennale gepflegte Genre der Kammeroper scheint Ruzickas Wahl vergleichsweise traditioneller Spielstätten Recht zu geben. „Der Glücksfall unseres Festivals ist es ja, dass wir keine Ensembles und Kollektive beschäftigen müssen, wie dies bei großen Staatstheatern der Fall ist. Wenn ein Komponist auf den Gedanken käme, ein Stück zu schreiben, in dem nur Synthesizer und Lichtprojektionen verwendet werden und Schauspieler statt Sänger in einem virtuellen Raum agieren, werden wir das ermöglichen.“
Also „Anything goes“? Mitnichten. Dem Diskurs der Postmoderne stellt der Intendant seinen Begriff der Zweiten Moderne entgegen. Wo Kunst beliebig und austauschbar zu werden droht, wo sie überwiegend mit Versatzstücken und Chiffren arbeitet, fordert sie Gegenzeichen heraus. „Wir dürfen neu darüber nachdenken, wo so etwas wie künstlerischer Fortschritt liegen könnte. Sich mit dem bestehenden ästhetischen Vokabular zufrieden zu geben, halte ich für ungenügend. Fortschritt bedeutet dabei nicht unbedingt im Adornoschen Sinn Materialfortschritt. Vielleicht sollten wir uns mit künftigen künstlerischen Projekten nicht zuletzt auch dem politischen Diskurs, den brennenden weltweiten Fragestellungen unserer Zeit nähern.“
Deutlich bekennt sich Peter Ruzicka aber auch zu einer Wiederentdeckung des sinnlichen Moments in einem über Jahrzehnte stark verkopften Musiktheater-Denken. „Oper wird für die junge Komponistengeneration heute wieder als eine Kunstform empfunden, die ein unvergleichliches Imaginationspotenzial besitzt. In der Tat bietet das Musiktheater in seinen besten Momenten dem Zuschauer eine einzigartige Erfahrung. Wenn alle Faktoren dieses Gesamtkunstwerks zusammenwirken, also das unmittelbar sinnlich Erfahrbare und die intellektuelle Herausforderung, ereignet sich etwas, das keine andere Kunstgattung für sich genommen leisten kann. Wagner hat hierzu so treffend formuliert, dass wir ‚Wissende durch das Gefühl werden müssen‘!“