Sie berührt uns, aber sie überwältigt nicht. Ihre intimen Botschaften klingen eindringlich und fein fokussiert, ohne jeglicher musikalischer Materialschlacht zu bedürfen. Die Kammeroper reduziert die Mittel des Musiktheaters auf das Wesentliche. Sie will nicht mehr die perfekte Illusion herstellen, wie sie die oft höfischen Opernhäuser seit der Barockzeit in ihrem trennenden Gegenüber von Bühne und Zuschauerraum auch architektonisch gleichsam inszenierten. Denn die Kammeroper schafft Nähe zwischen Künstlern und Publikum und lädt so zum Nachvollziehen ihrer Machart ein, bietet eine gleichermaßen intuitive wie intellektuelle Haltung der Rezeption an und erschließt Räume jenseits der traditionellen Guckkastenbühne.
Die Kammeroper ist also viel mehr als die kleine Schwester der „Großen Oper“. Ihrer quantitativen Beschränkung auf ein begrenztes Sängerensemble ohne Chor, ein eher solistisch sprechendes denn sinfonisch wuchtiges Kammerorchester und eine nicht zwingend abendfüllende Spieldauer steht die Qualität einer ganz neuen Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber. Die romantische Oper war einmal. Das Ideal des Wagnerschen Gesamtkunstwerks weicht der Suche nach experimentellen Ausdrucksformen der Avantgarde. Die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts gilt denn auch als Geburtsstunde des neuen Genres, das freilich bereits Vorläufer in den gern buffonesken Einaktern von Haydn und Mozart, von Rossini und Offenbach kennt. Zunächst haben Darius Milhaud, Boris Blacher, Kurt Weill, Igor Strawinsky und schließlich Benjamin Britten die Kammeroper geprägt und ihr zu ersten Höhepunkten verholfen. In den vergangenen Jahrzehnten waren es Wolfgang Rihm, Michael Nyman, Violeta Dinescu oder Georg Friedrich Haas, die das Genre nachhaltig bereicherten. Das instrumentale Theater eines Mauricio Kagel oder György Ligeti und die Performance der Postmoderne mit ihrem Ringen um neue Formen sind zeitgenössische Ausprägungen einer ins Offene strebenden Spielart des Musiktheaters.
Kammeroper: In der Kürze liegt die Würze
Doch aus den Nischen der alternativen Studiobühnen der Stadt- und Staatstheater, in denen sich vorzugsweise der künstlerische Nachwuchs ausprobieren darf, sowie der darauf spezialisierten Spielstätten wie den Kammeropern in Hamburg oder Wien, dazu aus den Festivals wie in Rheinsberg und München kam das innovative Genre zuletzt kaum heraus. Zu einer selbstbewussten Emanzipation der Kammeroper kann es, ja muss es freilich gerade jetzt kommen, wenn Intendanten es denn verstehen, aus der Not der Distanzregeln eine Tugend neuer Nähe zu machen. Um diese Dialektik aus Nähe und Distanz fruchtbar zu machen, bietet die Kammeroper geradezu eine Steilvorlage. Die jetzt vorgestellten pandemiebedingten Alternativspielpläne lassen in diesem Sinne besonders den visionären Mut der kleinen und mittleren Häuser erkennen. Während das Theater Lübeck mit Kammeropern-Klassikern der Moderne von Francis Poulenc und Gian Carlo Menotti in die Saison startet (die dabei Chefsache sind, denn GMD Stefan Vladar steht am Pult), holt Intendant Ralf Waldschmidt in seiner letzten Spielzeit am Theater Osnabrück jene Einakter von Henry Purcell, Franz von Suppè und Leonard Bernstein aus der Versenkung, bei denen garantiert die Würze in der Kürze liegt.