Er gehört wie William Vincent Wallace und Michael William Balfe zu jenen Komponisten, deren Opern auf dem europäischen Kontinent und international wenig verbreitet sind. Ralph Vaughan Williams kennt man international vor allem als Sinfoniker und im angelsächsischen Raum auch als Liedkomponist. Seine verträumt-rauschhafte „Fantasia on Theme by Thomas Tallis“ inspirierte mehrfach zu Choreografien und zählt in seinem Heimatland zu den beliebtesten Klassik-Titeln. Aber die Opern des am 12. Oktober 1872 in der Grafschaft Gloucestershire geborenen und am 26. August 1958 in London verstorbenen Komponisten gelangen neben den musikalischen Bühnenwerken von Frederick Delius, Benjamin Britten und Harrison Birtwistle viel zu selten auf die Spielpläne.
An Vaughan Williams’ Vorliebe für genuin britische Sujets kann es nicht liegen. Er komponierte stilistisch penible Vergangenheitsbilder mit einem bei Maurice Ravel erlernten Farbspektrum. Sein international bekanntester Operntitel ist heute „Sir John in Love“ (1929) nach Shakespeares Komödie „Die lustigen Weiber von Windsor“. Dieser konnte sich trotz „Greensleeves“-Einlage weder gegen Giuseppe Verdis „Falstaff“ noch gegen regional begrenzte Erfolge wie die Oper von Otto Nicolai, die Opera buffa von Antonio Salieri oder den vom Erzgebirgischen Theater Annaberg-Buchholz 2022/23 als deutsche Erstaufführung vorgestellten Zweiakter „Falstaff“ von Michael William Balfe behaupten.
Hochgeschätzt, doch fast gänzlich vernachlässigt
Ein Rezensent schrieb nach Anhören der Einspielung von „Sir John in Love“ unter dem Spezialisten Richard Hickox, dass Vaughan Williams ein allzu weichflächiges Genrebild aus altenglischer Idealzeit geschaffen habe, ohne gattungsspezifische Konturen und Kontraste. Es erstaunt, dass sogar die rührige Ralph Vaughan Williams Society dessen Opernschaffen in ihren Werkempfehlungen kaum Aufmerksamkeit schenkt. Da geht es Vaughan Williams fast so wie dem deutschen Dichterkomponisten E. T. A. Hoffmann, dessen Opern zwar hochgeschätzt, im Gedenkprogramm zu seinem 200. Todestag in diesem Jahr aber fast gänzlich vernachlässigt, ach was: missachtet wurden.
Vaughan Williams’ „The Poisoned Kiss“ (1936) nach einer fantastischen Erzählung von Nathaniel Hawthorne ist ein packendes Stück mit schauerromantischen und dekadenten Zügen. „Riders to the Sea“ (1937) nach John Millington Synge enthält eine der grausamsten Opern-Handlungen überhaupt: Die Irin Maurya verliert nach ihrem Mann ihre sechs Söhne durch tödliche Unfälle an das Meer. Ein ungewöhnliches Sujet hat auch „The Pilgrim’s Progress“ nach dem allegorischen Epos des puritanischen Dichters John Bunyan (posthume Uraufführung 1951), die der Komponist als Moralität, ein frühneuzeitliches Bühnengenre mit lehrhafter Absicht, bezeichnete. Hauptfigur ist ein Pilger auf seiner spirituellen Reise ins himmlische Jerusalem. Dieses Werk bleibt für ein nicht-britisches Publikum erst recht enigmatisch. Die epischen Wirkungen, teils sperrigen Harmonien und hohen musikalischen Schönheiten von Vaughan Williams sind also ein exquisites, noch immer unerschlossenes Vergnügen.