Für die Leitung der Nationaloper Lwiw war es wichtig, dass Anfang Dezember ausländische Gäste Zeugen des großen Uraufführungserfolgs von „Schatten vergessener Ahnen“ wurden. Die Tanzkantate nach der Novelle des ukrainischen Schriftstellers Mykhailo Kotsiubynsky (1911) ist ein wichtiges Projekt zur Erneuerung eines unabhängig von der russischen Föderation gepflegten und erweiterten Repertoires. Dabei geht es Vasyl Vovkum seit Beginn seiner Intendanz im Jahr 2017 nicht nur um genuine Schöpfungen ukrainischer Komponisten für ukrainische und internationale Choreografen, Regisseure und Interpreten, sondern vor allem um künstlerische Handschriften, die sich unabhängig vom erst in den letzten drei Jahrzehnten abgestoßenen sowjetisch-russischen Primat entwickeln und entfalten.
Seit Perestroika, der deutschen Wiedervereinigung und der Transformation des Warschauer Pakts in die Russische Föderation um 1990 ist eine junge Generation herangewachsen. Für diese ist der Autonomiegedanke weitaus wichtiger als Patriotismus. Die Förderung eigener Kreativressourcen war überdies schon lange vor dem russischen Angriff im Februar 2022 ein wesentlicher Inhalt ukrainischer Kulturpolitik. Der Nationaloper Lwiw kommt bei den Bemühungen um im Idealfall langlebige Repertoire-Schöpfungen eine wichtige Aufgabe zu. Denn sie und die Oper Kiew sind die einzigen Staatstheater im Gebiet der West-Ukraine – neben den Häusern in den ost-ukrainischen Städten Odessa, Charkiw und Onipro.
Etwa ein Viertel ukrainische Werke im Repertoire an der Nationaloper Lwiw
Warum das Bemühen um internationale Wertschätzung im westlichen Ausland derzeit unter den herrschenden Kriegsbedingungen energisch betrieben wird, erklärt sich mit unausgesprochenen, aber indirekt artikulierten Vorbehalten gegen ein national orientiertes Schaffen aus dem mitteleuropäischen Raum. Dabei gab es in Deutschland nach 1945 und nach 1989 gleich zwei einschneidende historische Zäsuren, welche dem Ausmaß des ukrainischen Umdenkkurses vergleichbar sind. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs verschwanden 1945 in den vier Besatzungszonen innerhalb kürzester Zeit alle ideologisch dem Ideengut des Nationalsozialismus angeglichenen Werke und Inszenierungen. Wie in der Ukraine heute bestand in Ost- und West-Deutschland eine ziemlich große und stabile Personal-Kontinuität im Übergang zur Demokratie. Nach 1989 verschwanden dann viele nach den auf Parteitagen der DDR entwickelten Theoriemodellen entstandene Werke. Diese kulturellen Einschnitte auf dem Weg zu einer parlamentarischen Demokratie wurden von der Mehrheit damals für gut befunden.
Wie ungebrochen in der DDR und ansatzweise auch in West-Deutschland eine russische Kultur-Suprematie gegenüber den anderen Sowjetrepubliken akzeptiert wurde, beweist das 1988 erschienene „Handbuch der russischen und sowjetischen Oper“ von Sigrid Neef. Im Einleitungsteil des bis heute wichtigen Standardwerks skizzierte die Dramaturgin die Kultur- und Musiktheatergeschichte aller Sowjetstaaten in Einzelabrissen von vier bis sechs Seiten. Der Entwicklung der russischen Oper widmet sie dagegen mehr als zwanzig Seiten. Von einer gleichgewichtigen Behandlung kann also nicht gesprochen werden, was das von ukrainischen Kulturschaffenden artikulierte Gefühl der Bevormundung durch russisch-sowjetische Priorisierungen indirekt bestätigt. Ungefähr zu einem Viertel besteht das Repertoire der Nationaloper Lwiw derzeit aus ukrainischen Opern und Balletten. Im deutschen Musiktheater kann man von einem Drittel von in Deutschland entstandenen oder von Deutschen im Ausland geschaffenen Bühnenwerken ausgehen.
Neuartige Inszenierungsformen
Vasyl Vovkum akzentuiert bei jedem Anlass, dass er sich für neue oder neuere Werke einsetzt. Opern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert bzw. deren die heroisch-patriotische Haltung verstärkende Bearbeitungen interessieren ihn hier weniger, wobei er natürlich auch ausgewählte ältere Werke im Repertoire hält. Der nach Vovkums Amtsverlängerung 2022 beibehaltene Kurs beinhaltet nicht nur eine Erneuerung des Repertoires, sondern auch für das regionale Publikum neuartige Inszenierungsformen sowie internationale Vernetzung durch Presse und Publikum. Das Versiegen ausländischer Besucherströme durch die Kriegssituation in Lviv und damit im Opernhaus-Schmuckstück treffen Vovkum, der vor seinem Wechsel in die Intendanz Tourismus- und Kulturminister der Ukraine war, zutiefst. Denn der Krieg bedeutet für die Bemühungen um Internationalität Stagnation.
Deshalb wäre die Neuproduktion eines ukrainischen Werks durch ein deutsches oder anderes westeuropäisches Haus ein Quantensprung für die Wahrnehmung und das Selbstbewusstsein der Kulturnation Ukraine und ihrer entstandener Bühnenschöpfungen. Das erklärt sich deutlich aus der noch immer schmalen Präsenz ukrainischer Musik in Deutschland. Mit Beginn des Krieges schnellten die Aufführungen kurzer und kürzerer ukrainischer Titel in Saison-, Sinfonie-, Kammer- und Charity-Konzerten auffallend in die Höhe. Die Oper Kiew gastierte 2022 mit Beethovens „Fidelio“ in Meiningen und die Ukraine National Oper im Spätherbst in mehreren Städten Deutschlands mit Puccinis „Madama Butterfly“, aber nicht mit Werken ukrainischer Provenienz. Die New Yorker Met vergab an den ukrainischen Komponisten Maxim Kolomiiets einen Opernauftrag. Und in der für 19. April 2024 im Berliner Konzerthaus angekündigte Benefizgala „Rebuild Ukraine“ dürfte es auch unter Mitwirkung ukrainischer Künstler bei wenigen Ausschnitten aus ukrainischen Kompositionen bleiben. Anders als italienische, französische, englische und deutsche Sänger haben ihre ukrainischen Kolleginnen und Kollegen nur selten die Gelegenheit, Werke in ihrer Muttersprache auf internationalen Bühnen vorzustellen. In der gegenwärtig hochbrisanten Situation zwischen Antrag auf Eintritt in die EU und Separierung von Russland bedeutet die Unterscheidbarkeit ein wichtiges Kriterium, weil die Präzisierung der Trennlinie zwischen Ukraine und Russland sehr komplex ist.
Aufschlussreiche Blicke auf das ukrainische Repertoire
Deshalb ist der Blick auf das ukrainische Repertoire der Nationaloper Lwiw hinsichtlich ihrer Sujets aufschlussreich. Die ältesten ukrainischen Stücke sind derzeit der von Oksana Lyniv dirigierte Abend mit den Opern „Der Falke“ und „Alcide“ des Mozart-Zeitgenossen Dmitri Bortniansky. Die Sujets einer belohnten treuen Liebe nach einer Novelle Boccaccios sowie die Entscheidung des Herkules zwischen Tugend und Ausschweifung waren im späten 18. Jahrhundert feudales und bürgerliches Gemeingut. Ein unverhohlen patriotischer Stoff ist die zweiaktige Oper „Die Kosaken an der Donau“ von Semen Hulak-Artemovsky. Das Dialogstück aus dem Jahr 1863 gehört zu den bekanntesten komischen Opern der Ukraine und erklingt derzeit in einer musikalischen Einrichtung von Volodymyr and Oleksandr Saratskyi. Es überspitzt die hartnäckigen Klischee-Zuschreibungen aus russischer Perspektive an die ukrainischen Kosaken als angriffslustige, freiheitsliebende und raue Bande. In einer „phantastischen Ausstattung“ geht es auch um den großen Traum der Kosaken, in die vergötterte und alsbald freie Ukraine heimzukehren.
Mit großem Stolz präsentierte man in Lwiw 2017 die Uraufführung von „Wenn der Farn blüht“ von Jewhen Stankowytsch. Die Ballettoper mit archaischen Liedern zum Kupala-Fest (Sommersonnenwende) entstand bereits 1977 für das französische Ensemble Aliteka und großen Chor. Die 1979 angekündigte Uraufführung wurde nach Angaben der Oper Lwiw durch sowjetische Autoritäten verhindert. Die folkloristische Partitur mit geschlossenen Gesängen und Tänzen hatte großen Erfolg. Im November 2022 folgte an der Nationaloper Lwiw „Schreckliche Rache“, eine weitere Oper von Jewhen Stankowytsch nach der symbolisch vieldeutigen Novelle von Nikolai Gogol, dem wichtigsten fantastischen Autor der Ukraine. Die rätselhafte Handlung um die Ukraine als das Gelobte Land sowie den als Parallele zur alttestamentarischen Geschichte von Kain und Abel deutbaren Mord Pjetros an seinem Bruder Ivan wird durch die Sprechrolle eines Richters vermittelt. „Fuchs Mykita“, die 2019 uraufgeführte Vertonung des berühmten Märchens von Ivan Franko von Ivan Nebesnyi, ist eine parabelhafte Geschichte mit Spaß, Tiefgang und burlesker Musik. Im Januar steht auch wieder das von Mykola Lysenko von 1864 bis 1889 zur Volksoper erweiterte Liederspiel „Natalka Poltavka“ auf dem Spielplan.
Viel Nachholbedarf in Mitteleuropa in Sachen slawisches Repertoire
Also viel Märchenhaftes, Realistisches, Mythisches und Historisches. Es fällt auf, dass es im Ballett der Nationaloper Lwiw eher avantgardistische Bestrebungen gibt als im Musiktheater. Trotz der Abgrenzung von russischen Formalien merkt man in den Neuschöpfungen die Ausrichtung an realistischen Ausdrucksmitteln, Tonalität und einer sehr gestischen Tonsprache. Die Spannweite zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist kürzer als in den westeuropäischen Ländern, der Zuspruch des Publikums für neue Werke größer. Inwieweit sich Musiktheater- und Tanzstücke wie die „Schatten vergessener Vorfahren“ langfristig durchsetzen und Aufführungskontinuität entwickeln, bleibt abzuwarten. An der Nationaloper Lwiw gehören „Die Zauberflöte“, „Don Giovanni“, „Lohengrin“ und natürlich auch zahlreiche italienische Opern von Rossini bis Puccini zum Standard-Repertoire. Nach einer Rückkehr aus der Ukraine merkt man deshalb erst recht, wie viel Nachholbedarf in Mitteleuropa noch in Sachen slawisches Repertoire neben dem weitgehend erschlossenen russischen Kanon besteht, der in Deutschland auch weiterhin auf den Spielplänen bleibt.