Am 30. Dezember 2019 hätte Theodor Fontane seinen 200. Geburtstag gefeiert. Deutschland nimmt dies zum Anlass, ihm neu zu begegnen. Im Jubiläumsjahr gibt es reichlich Programm, vor allem in Brandenburg, der Heimat des großen Schriftstellers und Journalisten. Dort sind 150 Veranstaltungen geplant, in der Geburtsstadt Neuruppin ist die Ausstellung „fontane.200“ zu sehen. Aber es wird auch eine musikalische Auseinandersetzung mit dem bedeutendsten Vertreter des Deutschen Realismus geben. So ist an der Deutschen Oper Berlin im April die Uraufführung einer Fontane-Oper zu erleben.
Detlev Glanert hat mit dem Librettisten Hans-Ulrich Treichel aus dem im Jahr 1882 entstandenen Novellenfragment „Oceane von Parceval“ ein Bühnenwerk geschaffen. Die Vorlage habe Glanert gereizt, weil hier zwei für Fontanes Gesamtschaffen zentrale Themen auf einandertreffen: „Hier ist seine Melusine-Obsession Thema, über sie hat er ja sehr viel ge schrieben, und zugleich der immer wieder verhandelte ,Clash of two Cultures‘.“
Skandal im Standhotel
Im Verlauf der Handlung wird Oceane mit der bürgerlichen Gesellschaft eines Sommerbadeortes an der See konfrontiert. Im Strandhotel von Madame Louise, das seine Glanzzeiten hinter sich hat, feiert eine provinzielle Gesellschaft deutlich über ihren Verhältnissen. Wie tief die Abstiegsangst sitzt, zeigt sich, wenn die durch Oceanes Andersartigkeit ausgelöste Irritation in Ablehnung und schließlich offene Feindseligkeit übergeht. Einen ersten Skandal gibt es, als Oceane den dringlichen Bitten des Martin von Dircksen um einen Tanz folgt und sich in ihren Bewegungen schließlich in selbstvergessener Extase verliert.
Der Gedanke an Salome und Elektra drängt sich auf, doch auf der Bühne des Strandhotels spielt eine mittelmäßige Kapelle Polkas und Walzer. Für sie hat Glanert gezielt einige Misstöne einkomponiert. Hier geht es also, anders als bei Richard Strauss, um ein Ausbrechen aus der konventionellen Bewegungssprache. Doch die Folgen sind ähnlich existenziell, wird Oceane doch nach ihrem Tanz von der empörten Menge bedrängt und verfolgt.
Oceane erinnert an Fontanes eigene Tochter
Zentral für das Konzept der Partitur ist die Gegenüberstellung der Welt des Meeres mit der der Badegesellschaft, die Glanert musikalisch ausgestaltet hat: „Die Wassermassen durch große, geschichtete, sich verschiebende Klangwolken. Allmähliche Farbveränderungen, das Changieren zwischen Licht und Schatten charakterisieren die See.“ Dieses harmonische Konzept, das Oceane trägt, pralle auf ein anderes, in dem die verschiedenen Hotelgäste charakterisiert werden. Diese sind ihr gänzlich fremd. Und die unüberwindbare Kluft weitet sich, als ein junger Fischer tot ans Meer gespült wird.
Oceane bejaht das tödliche Potential des im Sturm entfesselten Elements als Teil des Lebens und kann die Katastrophe nicht als solche empfinden, während die Urlaubsgesellschaft trauert. Glanert weiß, was Fontane an dieser Konstellation gereizt hat: „Seine Tochter Martha war sozial inkompetent. Hochintelligent wie auch Oceane, aber sie konnte nicht mit anderen Menschen umgehen.“ In seiner Oper ist ständig die Ahnung präsent, dass Oceane möglicherweise kein mystisches Wesen ist, sondern lediglich eine sehr individuelle, emotional verschlossene Frau.
Dabei ist Glanert wichtig zu betonen, dass er und Treichel auf eine Erklärung ihrer Psychologie bewusst verzichtet haben: „Wir haben Oceane als Phänomen gesetzt. Sie ist so, wie sie ist.“ Ob sie am Ende, als sie hinaus ins Meer schwimmt, frei in ihrem Element aufgeht oder den Freitod findet, bleibt also offen.