Startseite » Oper » Feuilleton » Der Erfinder des schöpferischen Skandals

Opern-Feuilleton: Zum 100. Geburtstag von Pierre Boulez

Der Erfinder des schöpferischen Skandals

Pierre Boulez wäre in diesem Monat hundert Jahre alt geworden. Für die nach Erneuerung gierende Opernszene bleibt er ein Vorbild.

vonPeter Krause,

Die Premiere ruft den größten Eklat in der Geschichte der Bayreuther Festspiele hervor. Scheinbar so gesittete Wagnerianer versammeln sich zu Kundgebungen und verfassen Morddrohungen gegen die Leitung des Traditionsfestivals. Nur langsam mischt sich in die Ablehnung auch echter Enthusiasmus. Fünf Jahre nach der skandalumwitterten Premierenserie der Tetralogie von 1976 aber wird die Inszenierung von Patrice Chéreau bereits zum „Jahrhundert-Ring“ verklärt und geht alsbald in die Geschichtsbücher des Musikthea­ters ein. Heute gilt sie gar als signifikanteste Operninszenierung aller Zeiten, die den Aufbruch in ein Regietheater markiert, das sich um Konventionen und den schönen Schein nicht schert, sondern nach der politischen und gesellschaftlichen Relevanz der Werke fragt. Den „Ring des Nibelungen“ nicht nur als mythologische Erzählung eines märchenhaften Irgendwann, sondern als Parabel des 19. Jahrhunderts und seines aufkommenden Kapitalismus zu lesen, wird als Skandal, ja als größtmöglicher Unfall aufgefasst. Dabei ereignet sich in der fränkischen Kleinstadt parallel auch ein musikalischer Skandal, der im Überschwang über Wohl und Wehe der Inszenierung mitunter vergessen wird, aber nicht minder historische Dimensionen besitzt. Denn ein gewisser Pierre Boulez befreit da seinen Richard Wagner vom Pathos und Bombast, von der in Langsamkeit zelebrierten Schwere seiner dirigierenden deutschen Vorväter.

Mit Händen könne man mehr ausdrücken als mit Holzstäbchen, meine einst Boulez, der stets mit bloßen Händen dirigierte
Mit Händen könne man mehr ausdrücken als mit Holzstäbchen, meine einst Boulez, der stets mit bloßen Händen dirigierte

Mit mathematisch klarem Kopf in den Wagner-Nebel hinein

Luzide tönt der Bayreuther Meister nun gleichsam französisch, mit eben jener Clarté und Eleganz, die dem Impressionismus eines Claude Debussy später eigen sein wird und den Wagner womöglich bereits in Teilen vorweggenommen hat. Und inspiriert durch die kristallinen Strukturen der eigenen Kompositionen des Pierre Boulez, dessen durch sein frühes Mathematikstudium geprägter klarer Kopf den schweren Wagner-Nebel des Mischklangs zur Transparenz der Mittelstimmen und feinen Klangfarben aufhellt. Boulez und seine so ganz andere Lesart brach also ebenso mit den Erwartungen wie die Regie seines Landsmanns Patrice Chéreau. War der Widerstand gegen die Inszenierung freilich vorwiegend ein äußerer des aufgebrachten Publikums, hat der Dirigent zusätzlich mit internen Querelen zu kämpfen. Künstlerisch Beteiligte begehren auf, zumal Orchestermitglieder sagen ab, interne Spannungen entstehen, weil der musikalische Leiter mit den liebgewonnenen Gewohnheiten eines bislang für allein richtig gehaltenen Wagner-Klangbilds bricht.

Doch der Rebell setzt sich durch, der schon zehn Jahre zuvor an derselben heiligen Stelle den „Parsifal“ neu deutet und dazu mit frisch flüssigen Tempi versehen hat – mit dem Wissen eines komponierenden Dirigenten, der sich mit maximaler Genauigkeit einem Strawinsky, Bartók und der Zweiten Wiener Schule gewidmet hat. Der junge Wilde bleibt sich in seiner Haltung treu, als er dann als alter Herr auf den Grünen Hügel zurückkehrt und anno 2004 wiederum den „Parsifal“ einstudiert – nun in der Inszenierung des Enfant terrible Christoph Schlingensief, der Konventionen so sehr ablehnte wie der Teufel das Weihwasser. Die wilde Assoziationslust des Regisseurs und die kühle Klangkontrolle des Dirigenten ergänzen sich perfekt. Und die beiden Künstler verstanden sich, Boulez empfand die Zusammenarbeit als hoch spannend. Und einmal mehr gilt: Skandale können die Interpretations- und Rezeptionsgeschichte großer Werke enorm voranbringen.

Keine Partitur war zu groß, keine zu unübersichtlich für de Anwalt der zeitgenössischen Musik
Keine Partitur war zu groß, keine zu unübersichtlich für de Anwalt der zeitgenössischen Musik

Die Kultur und Zivilisation beherzt in die Zukunft führen

Denn so wenig es einem Chéreau je um billige Provokation ging, so sehr grenzte sich Boulez von künstlerischer Sicherheit und Routine ab, um zu kreativen neuen Lösungen zu finden, die Kultur und Zivilisation beherzt in die Zukunft führen. Sein oft, aber meist nur verkürzt zitiertes Interview in „Der Spiegel“ aus dem Jahr 1967 zielt genau darauf ab. Denn dessen Titel „Sprengt die Opernhäuser in die Luft“ klingt ja zunächst fast schon nach terroristischer Destruktion. Dem gewitzten, seine Aussagen gern zuspitzenden Intellektuellen geht es um anderes. Er diagnostiziert, dass die großen etablierten Theatergebäude eben für das Standardrepertoire von „Mozart, Verdi, Wagner, bis Berg“ geeignet seien, fordert daher eigene Räume des Experiments, die kleiner und flexibler sein und dem Risiko dienen müssten. Bissig wird Boulez beim Blick auf vorgeblich „moderne“ Schöpfungen seiner Zeitgenossen, denn „seit Alban Bergs ,Wozzeck‘ und ,Lulu‘ ist keine diskutable Oper mehr komponiert worden“. Henze kanzelt er ab: „Ich denke da immer an einen lackierten Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt.“ Kagel und Ligeti, so Boulez wörtlich, „mangelt es an umfassender Theaterkenntnis. Und manchmal ist die musikalische Seite recht dünn.“

Was es brauche, seien zunächst Texte, die „wirklich direkt für das musikalische Theater konzipiert werden.“ Denn die Literaturoper hält er für steril. Jean Genet stellt er sich als möglichen Partner einer „Synthese von Theater und Musik“ vor, für Ansätze also, „die nicht nur vom ästhetischen und vom dramatischen Standpunkt ausgehen, sondern die moderne Musik und modernes Theater miteinander verklammern könnten“. Er träumt davon, was an Großem entstanden wäre, wenn „Strawinsky und Brecht in den zwanziger Jahren zusammengearbeitet hätten“. Dazu kam es bekanntlich so wenig wie zu einer eigenen Oper aus der Feder von Pierre Boulez, über die er allerdings durchaus lange nachdachte. Den Visionär, der in diesem Monat hundert Jahre jung würde, zu seinem Geburtstag ernst zu nehmen, hieße also, heute Studienangebote zu etablieren, die das Lib­rettoschreiben und Komponieren konsequent zusammendenken würden, um die Ergebnisse hernach in der Praxis zu erproben.

Insgesamt 26 Grammys erhielt der Komopnist, Dirigent und Musikdenker Pierre Boulez
Insgesamt 26 Grammys erhielt der Komopnist, Dirigent und Musikdenker Pierre Boulez

Brillanter Rebell und Rhetoriker

Viele seiner Träume – abseits seiner längst zur klassischen Moderne zählenden Kompositionen – hat er freilich in die Tat umgesetzt. Nicht zuletzt jenen des in Paris gegründeten Institut de Recherche et Coordination Acoustic/ Musique – kurz „IRCAM“ genannt. Die dortige Erforschung von Akustik, Elektroakustik und Computertechnologie hat heute sogar über die Musik hinaus Bedeutung in der Softwareentwicklung. Der brillante Rebell und Rhetoriker, der präzise Dirigent und der mathematische, modernistische Moden und Avantgarde-Klischees meidende Komponist nicht nur serieller Musik bleibt ein Vorbild für eine Szene, die sich immer wieder neu erfinden muss.

Album-Tipp:

Album Cover für Pierre Boulez – The Conductor. Sämtliche Aufnahmen der Deutschen Grammophon & Philipps

Pierre Boulez – The Conductor. Sämtliche Aufnahmen der Deutschen Grammophon & Philipps

Werke von Wagner, Bartók, Mahler, Ravel, Schönberg, Strawinsky, Debussy, Berg u. a.
DG (84 CDs & 4 BDs)

DVD-Tipp:

Wagner: Der Ring des Nibelungen

Bayreuther Festspiele, Pierre Boulez (Leitung), Patrice Chéraeu (Regie).
DG (8 DVDs)






Auch interessant

Rezensionen

  • „Ich bin einfach Sängerin“
    Interview Fatma Said

    „Ich bin einfach Sängerin“

    Fatma Said spricht im Interview über das romantische Lied, das Eigenleben der Stimme und einen besonderen Besuch in Kairo.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!