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Riccardo Muti gibt Opernakademie in Ravenna

Im Kampf für den Komponisten

Ein meinungsstarker Megamaestro. Riccardo Muti führt den Dirigentennachwuchs in die Geheimnisse der Verdi-Interpretation ein

vonPeter Krause,

Lebende Legenden können furchteinflößend wirken, derart einschüchternd, dass sie ihre Umwelt komplett zum Schweigen bringen. In der Korrepetitionsprobe zu Beginn der italienischen Opernakademie, die Riccardo Muti in Ravenna, der Heimatstadt seiner Gattin Cristina, abhält, wirkt der Maestro derart übergroß, dass außer ihm niemand zu sprechen wagt. Vier junge Dirigenten, die aus Hong Kong, der Ukraine und den USA stammen, sitzen im Teatro Dante neben ihm wie die Hühner auf der Stange – nur gackern sie so gar nicht.

Jeong Jieun hat am Flügel Platz genommen, den Klavierauszug von Giuseppe Verdis bluttriefendem „Macbeth“ aufgeschlagen. Die grazile Koreanerin greift in die Tasten, reduziert die Erregtheit der von Mord und Machtgeilheit triefenden Musik freilich auf den Agitationsgrad einer Czerny­-Etüde. Muti unterbricht sie nach wenigen Sekunden und fragt: „Wo hast du studiert?“ Sie entgegnet: „An der Accademia der Mailänder Scala“. Mit ironischem Lächeln murmelt der Maestro: „Ah, das ist das Problem.“ Muti hatte am berühmtesten Opernhaus der Welt bis 2005 selbst als Musikchef das Zepter geschwungen, war indes keineswegs in Harmonie aus der Lombardei geschieden.

„Merkt ihr, wie präzise Verdi ist?“

Nachwuchsdirigent John Lidfords mit Riccardo Muti
Nachwuchsdirigent John Lidfords mit Riccardo Muti © Silvia Lelli

Der zartbesaiteten Korrepetitorin rät er nun: „Spiele wie ein Dirigent, nicht wie ein Pianist“. Will heißen: Sie möge doch das dramatische Feuer entzünden, das in jeder Verdi­-Phrase steckt, und bloß nicht brav die Noten des Klavierauszugs herunterspulen. Er selbst setzt sich an die Tasten, scherzt kurz über seine mangelnden Fertigkeiten am Klavier, demonstriert dann indes, was er mit seiner einfachen Wahrheit meint. Und siehe da: Die Phrasen fangen plötzlich an zu blühen, drängende Bewegung zu evozieren, intensiv von Shakespeares und Verdis Kunst zu sprechen.

Der Meister überlässt der Lehrlingsdame das Feld am Flügel. Und arbeitet mit den Sängersolisten in einer Detailverliebtheit an den Rezitativen, wie man sie selbst an den besten Opernhäusern der Welt nicht mehr findet. Das feine Austarieren zwischen Gesprochenem und Gesungenem müsse den natürlichen Betonungen der italienischen Sprache folgen, das Verständnis der Worte sei nun wichtiger als die schöne Gesangslinie: „Jedes Wort ist ein Monument, noch das kleinste Element hat eine Bedeutung. Merkt ihr, wie präzise Verdi ist?“ Er verdeutlicht, wie im Ensemble „O gran Dio, che ne’ cuori penetri“ nach dem entdeckten Mord an König Duncan den Charakteren die Angst in den Knochen steckt. „Da dürfen die Pausen im Notentext doch keine leere Stille sein, sondern müssen mit erregter Spannung gefüllt sein.“

Theatralische Situationen schaffen

Zwischen die penible Arbeit am Notentext, die einer skrupulösen Exegese gleicht, schiebt der Maestro, wie er von allen Beteiligten einschließlich seiner Frau genannt wird, Anmerkungen ein, die das Operngeschäft der Gegenwart dezidiert kritisch beleuchten: „Heute gibt es keine Zeit mehr, so genau musikalisch zu arbeiten wie wir hier. Der Regisseur bekommt zwei Monate Zeit, um seine Schweinereien auf die Bühne zu bringen, aber der Dirigent spielt keine Rolle mehr. Regietheater nennen die Deutschen das. Ich werde durch meinen musikalischen Anspruch in der Opernszene mittlerweile als Verrückter angesehen. Aber ich insistiere. Auch ihr müsst das Kämpfen lernen – den Kampf für den Komponisten! Und durch euer musikalisches Wissen die theatralischen Situationen schaffen, die die Regisseure negieren.“ Gern schiebt Riccardo Muti nach der Verkündung zentraler Weisheiten ein rhetorisch fragendes „Capito?“ nach. „Verstanden?“ Die vier Dirigentenknaben auf der Hühnerstange nicken dezent – und schweigen.

Die Legato-Lektion

Penible Arbeit am Notentext ist fester Bestandteil der Akademie
Penible Arbeit am Notentext ist fester Bestandteil der Akademie © Silvia Lelli

Eine der wichtigsten Lektionen über den Opernkomponisten Verdi lernen sie in der Chorprobe. „Ihr müsst das schönste Legato der Welt kreieren“, sagt Inspirator Muti in Richtung des Kollektivs und erfindet allerlei, auch politisch nicht korrekte Variationen des Begriffs „Lega“, um das zentrale Element der Vokalmusik zu verdeutlichen – das Verbinden der Töne zu einem einzigen langen Strom, durch den die Spannung der Musik hochgehalten wird. „Das Schwierigste dabei bleibt, im Legato dennoch jedem Wort seine Bedeutung zu verleihen, die lange Linie mit der exakten Artikulation zu versöhnen, einen Ausgleich der Parameter zu erreichen.“

Bei der Arbeit am grandiosen Chor „Patria oppressa“, in den jeder einzelne Sänger „den ganzen Schmerz der Welt“ hineinlegen müsse, verlangt Riccardo Muti für den Doppelkonsonanten des P in „oppressa“: „Ich möchte 40 P’s hören, seid da ganz deutlich!“ Und da die in der Musik vermittelte Erschütterung ja hier zudem extraleise zu singen ist, erläutert der Maestro seine Vorstellung eines prallen Piano- Singens: „Ein Pianissimo bei Verdi darf nicht ätherisch wie das eines Debussy klingen. Bitte singt gut gestützt und körperlich.“

Riccardo Muti: „Umarme die Musiker mit deinen Blicken“

Ob Il Maestro die anfänglichen Berührungsängste seiner Schützlinge bemerkt hat? Als mit den Orchesterproben alle Beteiligten zusammengeführt werden und seine Nachwuchskollegen aktiv ans Pult treten dürfen, entsteht auf einmal ein pädagogischer Geist, der nun auch körperliche Nähe und echten Austausch mit sich bringt. Doch selbst jetzt sind manche seiner Botschaften noch verdammt entmutigend. So berichtet der Dirigent, dass ihm die Wiener Philharmoniker zu verstehen gegeben hätten: „Ab sechzig Jahren bist du ein Maestro, vorher ein Lehrling.“ Und der berühmte Vittorio Gui, Gründer des Maggio Musical Fiorentino, habe ihm kurz vor seinem Tode anvertraut, dass er eigentlich erst mit neunzig Jahren wirklich kapiert habe, was es heiße, ein Orchester zu leiten.

Nicht das Taktschlagen sei entscheidend, sondern die menschliche Beziehung. Genau das Gespür hierfür impft er den vier Novizen nun anschaulich ein: „Umarme die Musiker mit deinen Blicken“, ermutigt er den zunächst noch kapellmeisterlich vorsichtigen und distanzierten Amerikaner John Lidfors, der in Bochum als Assistenzdirigent tätig ist. Als der Tenor dann das Finale des ersten Akts präpotent schmetternd zerhaut, unterbricht Muti die Probe und scherzt in Richtung des vokalen Angebers: „Wenn du kein Mezza Voce singst, bringe ich dich um.“

Als Sherill Milnes blieb

Ein Teilnehmer dirigiert mit Mutis Rückendeckung
Ein Teilnehmer dirigiert mit Mutis Rückendeckung © Silvia Lelli

Sängerische Selbstdarstellung verabscheut der Verdis Urtext hochhaltende Maestro und berichtet von seiner „Macbeth“-Einspielung mit dem amerikanischen Starbariton Sherill Milnes: „Dieser Riesenkerl wollte seine hohen Töne bis in die Ewigkeit ausdehnen. Da machte ich ihm klar, er solle singen, was in der Partitur stehe, oder er möge bitte abhauen.“ Milnes blieb und folgte dem gestrengen Anwalt Verdis. Die Lektion hat auch hier gewirkt: John macht Ansagen in der Probe, die Wirkung zeigen.

Auch der zunächst noch hölzern mit beiden Händen parallel den Takt schlagende, den Kopf in die Noten steckende Pak Lok Alvin Ho, aktueller Assistenzdirigent an der Indiana Opera, bekommt seine Lehrstunde in Sachen Zugewandtheit. Nachdem Riccardo Muti seinerseits mal kurz mit der hübschen Konzertmeisterin des Orchestra Giovanile Luigi Cherubini geflirtet hat, ermuntert er seinen jungen Kollegen: „Lächle doch mal die reizenden Damen im Chor an, bereite deren Gefühlswelten gestisch vor. Öffne deine Arme. Da hat Verdi doch einen richtig erotischen Moment komponiert.“ Wirklich locker wird die Akademieatmosphäre, nachdem das Kollektiv dem Maestro sein Geburtstagsständchen verehrt hat – das italienische Happy Birthday namens Tanti auguri a te. Riccardo Muti wird 77 Jahre jung.

„Nutze weniger Worte als Taten und Zeichen“

„Bravi! Ihr habt sogar alle mit Legato musiziert!“, frohlockt er, hebt seinen kleinen Enkel aus der Loge und bläst mit ihm gemeinsam die eine Kerze aus, die in der Geburtstagstorte steckt. Wilbur Lin, der taiwanesich-amerikanische Nachwuchsdirigent, nutzt die Gunst der Stunde und folgt des Meisters Vorgaben mit Gestik und Mimik, die den Musikern Flügel verleihen: „Gib den Sängern die Energie, die sie aus der Routine des Theaters hinausreißt. Nutze weniger Worte als Taten und Zeichen. Singe auch mal eine Phrase vor.“ Dies habe auch der greise Toscanini einst mit gebrochener Stimme getan – und durch seine direkte Zuwendung einfach alles erhalten.

Riccardo Muti dirgiert Verdis Macbeth:

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