Stefan Herheim ist sicher der größte Virtuose unter den aktuellen Musiktheaterregisseuren. Seine Inszenierungen zeichnen sich durch einen immensen Detailreichtum in Personenführung und Bildkomposition aus. Zusätzlich hat er mit dem Dramaturgen Alexander Meier-Dörzenbach und seinem Ausstattungsteam eine Methode entwickelt, die Werke zu durchdringen, indem er sie mit Assoziationen vor allem aus der Kulturgeschichte geradezu beschießt. Auch bei Manon Lescaut beschränkt Herheim sich keineswegs darauf, die Geschichte zu vermitteln. Genau genommen tut er gerade das absichtsvoll unvollkommen.
Virtuoses Verblenden von vier Epochen
Prägende Bildidee der Inszenierung ist die Freiheitsstatue, die 1886, sieben Jahre vor der Uraufführung von Puccinis Durchbruchsoper, als französisches Geschenk nach New York verschifft wurde. Herheim lässt Einzelteile, vor allem den Arm mit der Fackel und den Kopf mit dem siebenstrahligen Kranz, über die Drehbühne rotieren. In schnell wechselnden Bildern blendet er virtuos Epochen ineinander, vom Rokoko über die Französische Revolution bis in die Entstehungszeit der Oper, von der Feudalgesellschaft des 18. Jahrhunderts zum American Way of Life, bei dem Selbstbewusstsein auf Erfolg und finanzieller Unabhängigkeit gründet.
Des Weiteren versucht Herheim die dramaturgischen Strukturen von Manon Lescaut offen zu legen. Dafür stellt er das berühmte Intermezzo an den Anfang und lässt, wie in Abbé Prevosts Romanvorlage, den alten Des Grieux, hier der Architekt der Freiheitsstatue, seine gescheiterte Liebe zu der lebens- und luxustollen Manon aus der Rückschau erzählen. In diese Erzählung bricht immer wieder der Komponist Puccini, dargestellt von Schauspieler Mathias Kopetzki, persönlich ein, arrangiert um, stellt wirkungsvolle Szenen und Ensemblekonstellationen zusammen und zerbricht das erzählerische Kontinuum.
Freiheitsdiskurs und streitbare Auseinandersetzung mit Puccinis Kitschpotenzial
Alles zusammen ergibt einen ästhetisch reizvollen, überaus komplexen Diskurs über Wesen und Möglichkeit individueller Freiheit, eine streitbare Auseinandersetzung mit dem Kitschpotenzial von Puccinis Opernschaffen – oder einfach einen lebendigen, sehr eigenständigen, handwerklich hochstehenden Theaterabend auf gutem musikalischen Niveau. Der Zuschauer hat die Wahl. Und er muss wählen.
Puccinis Modernität
Giacomo Sagripanti hat die Essener Philharmoniker hervorragend vorbereitet. Man hört die Modernität dieser Partitur, ihren melodischen Reichtum, auch wie Puccini hier immer mal wieder in Wagners Fahrwasser gerät. Die Verführungskraft dieser Musik hört man weniger. Unter den durchweg guten Comprimarii ragen Michaela Selinger mit ihrem bildschönen Mezzo als Madrigalistin und vor allem der edel timbrierte, elegant-schmierige Geronte von Tijl Faveyts heraus. Gaston Rivero ist ein Des Grieux mit minimalen Konditionsproblemen, aber einer wundervollen, oft eingesetzten, kupfern schimmernden mezza voce. Katrin Kapplusch schließlich ist eine etwas reife Manon, was ihr aber gerade im Schlussakt bei der Rollengestaltung hilft. Herheim erzählt hier – so fantasievoll wie übertrieben – vom Versuch der Figur, sich von ihrem Gestalter zu befreien.
Dass das gewohnte schlussaktlange, wehmütige Wegsterben der Titelheldin hier ausblieb, machte einen Teil des Publikums extrem wütend. Da wurde ordentlich gebuht auf der Premiere. Dagegen erhob sich ein Bravo-Chor, deutlich vielstimmiger, aber weniger laut. Die – nicht wenigen – Verwirrten beschränkten sich auf freundlichen Applaus.
Puccini: Manon Lescaut
Giacomo Sagripanti (Leitung), Stefan Herheim (Inszenierung), Heike Scheele (Bühne), Gesine Völlm (Kostüme), Alexander Meier-Dörzenbach (Dramaturgie), Katrin Kapplusch, Heiko Trinsinger, Gaston Rivero, Tijl Faveyts, Abdellah Lasri, Baurzhan Anderzhanov, Michaela Selinger, Mathias Kopetzki, Chor und Extrachor des Aalto-Theaters, Essener Philharmoniker