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Opern-Kritik: Oper Graz – Der ferne Klang

Freudianisches im Puppenhaus

(Graz, 15.10.2015) Ambitionierter Start der neuen Intendantin Nora Schmidt

vonEcki Ramón Weber,

Die Oper Graz hat mit dieser Spielzeit eine neue Intendantin: Nora Schmidt war zuletzt Chefdramaturgin an der Dresdner Semperoper. Programmatisch für den frischen Wind, der nun durchs Haus wehen soll, ist gleich die erste Premiere, Franz Schrekers Der ferne Klang. Nachdem Schrekers Musik von den Nazis verfemt und nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen wurde, entdeckt man den Komponisten zwar seit den 1980ern immer mal wieder neu, aber fester Teil des Repertoires sind seine Opern noch immer nicht.

Dabei waren sie zu ihrer Zeit ähnlich erfolgreich wie jene von Richard Strauss. Deswegen ist es verdienstvoll, dass die Oper Graz Schrekers 1912 in Frankfurt am Main uraufgeführte Oper Der ferne Klang präsentiert – ein modernes Künstlerdrama, das den skandalumwitterten Durchbruch für den Komponisten darstellte: Tabuisierte Themen wie Selbstmord und Prostitution, aber auch Sozialkritik kamen ungeschönt auf die Bühne und eine modernistisch sinnliche, farbig schillernde und hochgespannt nervöse Musik aus dem Orchestergraben.

Schreker sprengt den Orchestergraben

Bei dieser Oper kann ein Haus auch musikalisch gleich mit den Muskeln spielen: Die große Besetzung sprengt zumeist den Orchestergraben, so auch im neobarocken Grazer Bau. Zwei Harfen stehen in der Loge links, Schlagzeug rechts, im zweiten Akt Teile des Chores und des Orchesters in den oberen Rängen und eine Tanzkombo einschließlich eines Cimbaloms für balkanisches Roma-Kolorit als Bühnenmusik auf der Szene.

Künstlerdrama zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Der ferne Klang erzählt vom Konflikt zwischen Wunsch und Wirklichkeit, von besessenem Karrierestreben und der Sehnsucht nach Vereinigung, von materieller Not und dem Machtgefälle zwischen den Geschlechtern: Fritz, idealistischer Komponist, schwärmerischer Phantast, Egozentriker, opfert dem Karrierestreben seine Liebe zu Grete – und sehnt sich fortan obsessiv nach ihr. Grete wiederum, verlassen und verprellt, entflieht der bitteren Not des Elternhauses, nachdem sie der versoffene Vater beim Kegeln an den Wirt verspielt. Sie landet schließlich als umschwärmte Prostituierte in einem Schickeria-Bordell in Venedig. Hier treffen sich Grete und Fritz durch Zufall zum zweiten Mal, um sich dennoch erneut zu verlieren. Bis zum letzten Treffen in ihrem Heimatort, nun allerdings sind beide gebrochene Menschen.

Florentine Klepper inszeniert mit klarem Blick für die brisanten Handlungselemente

Ohne Larmoyanz und Melodramatik, dafür mit klarem Blick für die brisanten Handlungselemente, zeigen die junge Regisseurin Florentine Klepper und ihr Ausstattungsteam (Martina Segara und Anna Sofie Tuma) die Geschichte in eindrücklichen Bildern. Der erste Akt spielt imposant auf drei Etagen eines überdimensionierten Puppenhauses, ganz oben Grete und Fritz: Für sie hängt der Himmel hier nicht voller Geigen, sondern voller dräuender Orgelpfeifen, Hinweis auf die letztlich destruktive künstlerische Obsession des jungen Mannes. Im Mittelgeschoss spielt sich das Kleinfamilienelend ab, im Parterre tobt das Wirtshaustreiben.

Die Stummfilm-Unterwelt aus Der dritte Mann lässt grüßen

Dass Frauen in diesem Gefüge nicht viel zu melden haben, wird überdeutlich. Der zweite, der Venedig- Akt, ist der spektakulärste der Inszenierung, mit Videoeinblendungen (Heta Multanen), die an den expressionistischen Stummfilm, aber auch an die Wiener Unterwelt aus Der dritte Mann erinnern und Grazer Ansichten als schaurig-morbides Venedig im Karneval zeigen, sowie mit einer glitzernden Table-Dance-Bar, wo die männliche Kundschaft sich brutal nimmt, was sie begierig will. Der dritte Akt zeigt schließlich, dass die Protagonisten letztlich von ihren eigenen Dämonen verfolgt werden. Der künstlerische Kniff der Regie, zwei Nebenrollen als Alter Egos der Hauptfiguren zu kleiden und damit als innere Stimmen von Grete und Fritz zu visualisieren, ist überaus schlüssig und betont die Nähe von Schrekers Opernhandlung zum Denken seines Wiener Zeitgenossen Sigmund Freud.

Johanni van Oostrum als Grete ist ein sängerisches Ereignis

Der neue Grazer Generalmusikdirektor Dirk Kaftan hat bereits mit den Kräften des Theaters Augsburg, wo er bis vor kurzem tätig war, Der ferne Klang eingespielt. Nun hat er das Grazer Philharmonische Orchester auf diese Klangwelt eingeschworen, das sich wacker schlägt, wenn auch im Klangbild einige Härten hervorstechen. Dadurch werden die Sänger zuweilen zugedeckt, leider auch Daniel Kirch, dessen schlanker Tenor sich als Fritz nicht immer durchsetzen kann.

Ein Ereignis ist jedoch die Grete von Johanni van Oostrum, deren markanter, warmer Sopran scheinbar mühelos über den brodelnden Orchestermassen schwebt. Ihre Bühnenpräsenz ist überwältigend, selbst vor Akrobatik an der Stange in der Bordell-Szene des zweiten Aktes schreckt sie nicht zurück. Auch das übrige Bühnenpersonal ist erfreulich motiviert und spielfreudig – einschließlich der gut aufgelegten Chöre. Alles in allem also ein vielversprechender, ambitionierter Anfang, der neugierig macht auf die nächsten Premieren am Haus. Anlass genug, weiterhin ein Auge auf Graz zu werfen.

Oper Graz

Schreker: Der ferne Klang

Dirk Kaftan (Leitung), Florentine Klepper (Inszenierung), Martina Segna (Bühne), Anna Sofie Tuma (Kostüme), Johanni van Oostrum, Daniel Kirch, Dshamilja Kaiser, Markus Butter, Grazer Philharmonisches Orchester

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