Wie wäre es, Herrn Wagner mal wieder aus der Musik heraus zu begreifen? Den Weltenbrand der Götterdämmerung als Geburt der Tragödie aus dem Geiste eines wissenden Orchesters zu inszenieren? Will sagen, den allfälligen Furor der Aktualisierungswut und Dekonstruktionslust einfach mal den kleinen und großen Castorfs der kleinen und großen Wagnerdörfer einer immer wieder Ring-verrückten Opernrepublik zu überlassen? Mit Macht setzt Ulf Schirmer als Generalmusikdirektor und Intendant in Personalunion auf die Wirkung der Musik. Da er über eines der weltbesten Orchester überhaupt gebietet und dieses Gewandhausorchester noch dazu in Wagners Geburtsstadt zu Hause ist, hat er den Trumpf des Authentischen in der Hand. Mit einer Sängerbesetzung, die fast ausschließlich aus Rollendebütanden besteht, fährt er gleichwohl hohes Risiko. Packt der zum Heldentenor gereifte einstige Bariton Thomas Mohr den Siegfried? Gebietet Christiane Libor, die aus dem jugendlich-dramatisch Fach kommt, bereits über die hochdramatische Expansionskraft, um der Welt weisestes Wagnerweib adäquate Statur zu verleihen?
Die Regie zeigt, sie interpretiert nicht
Die Bilder zum grausigen Intrigenstadel der Götterdämmerung sind in der Wagnerstadt einer Choreographin anvertraut. Rosamund Gilmore deutet wenig, sie kontrapunktiert oder ironisiert gar nicht, sie liest nicht gegen Text und Musik an. Ihr Theater zeigt. Mit einer gleichsam Siegfried-ähnlichen Naivität führt sie die Geschichte vor. Zwischen den gleichwohl klar gezeichneten Figuren passiert nichts Nie-Gesehenes oder sonst irgendwie Verblüffendes, vielmehr stellt die längst auch als Opernregisseurin aktive einstige Londoner Tänzerin den Sängern ihrerseits Tänzer zur Seite. Das ist zum Teil dekorativ, wenn die Nornen – derart multipliziert, sich in Slowmotion bewegende Skulpturen wandeln. Es ist auf poetische Weise sinnstiftend, wenn Brünnhildes Ross Grane zu einem menschlichen Begleiter mutiert und so dann auch die seelischen Aspekte von Wotanstochter und Drachentöter spiegeln kann. Mitunter ist der Ansatz auch beliebig, da Gilmore die Chance auslässt, die Tänzer konsequent tiefenpsychologisch einzusetzen, so wie es der bedeutende Wagner-Exeget Robert Donington im Sinne von C.G. Jung in seinem Buch über Wagners Ring und seine Symbole nahelegen könnte.
Deutungsdemut mit einer Prise Repolitisierung
Für fortgeschrittene Wagnerianer ist Gilmores Deutungsdemut ein Zuviel an Zurückhaltung, für Wagnerentdecker ist ihre Verbeugung vor der Musik und dem Primat der Wirkung des musikalischen Dramas ein Labsal. Denn hier wird mal wieder ganz einfach die Geschichte erzählt. Dies übrigens durchaus vor dem Hintergrund der dunkeldeutschen Wagner-Rezeption. Hagens Mobilmachung der verdächtig beige-braunen bemantelten Chorherren im zweiten Aufzug, die markerschütternd ihr „Heil! Willkommen Gunther“ rufen, verweist eindeutig zweideutig auf die Verführbarkeit eines ganzen Volkes, für die Wagner, gesegnet mit der Gnade der frühen Geburt, zwar nichts konnte. Doch die Figur des kühl die Fäden eines Vernichtungswerks spinnenden Hagen und die überwältigende wie erschütternde Wirkungsmacht gerade dieser Chor-Szene macht die gezeigten Assoziationen sehr wohl naheliegend. In einer Stadt, in der in den 70er Jahren ein Joachim Herz die politische Wagner-Deutung eindeutig bereits vor dem Bayreuther Jahrhundert-Ring von Chéreau einführte, dürfen solche Bilder wohl nicht fehlen. Es gibt dabei sogar eine personelle Verbindung zum damaligen Team: Bühnenbildner Carl Friedrich Oberle war seinerzeit Student des Ring-Ausstatters der Herz-Produktion, Rudolf Heinrich. Oberles graues Reichsparteitags-Einheitsbühnenbild ist eine immerhin entfernte Referenz an seinen Lehrer.
Der Generalmusikdirektor als dirigierender Klangdramaturg
Ulf Schirmer beglaubigt die Bildwelten des zweiten Aufzugs mit maximaler dramatischer Dichte und einer fantastisch zugespitzen Schärfe seines glanzvollen Orchesters. Da arbeitet ein sehr kluger Dirigent genuin klangdramaturgisch. Wo sich Gilmore zurückhält, da bezieht der Dirigent Stellung, inszeniert das Drama sozusagen aus dem Graben heraus. Das Erstaunliche dabei: Die drei Aufzüge gestaltet Schirmer in ihrer ganz eigenen Spezifik durchaus unterschiedlich. Im epischen, gern etwas länglichen Nornen-Vorspiel lässt er das Gewandhausorchester behaglich blühen, macht in langsamen Tempi geradezu jede harmonische Wandlung wahrnehmbar und verständlich. Das luxuriös Weiche Klangbild der bernsteindunklen Streicher als ureigene Qualität der Luxuskappelle kommt in fein ausgehörtem Reichtum der Farben zum Ausdruck. Da gibt es Momente von geradezu karajaneskem Schwelgen in Schönheit – freilich nie missverstanden als blank polierter Oberflächenglanz und Selbstzweck, sondern als Kommentar eines sich der Tragik des Geschehens bewussten Orchesters. Wenn Brünnhilde dem Ende einer Welt dann am Ende des Musikdramas den höheren Sinn ihrer weiblichen Weisheit verleiht, nimmt Schirmer wiederum das Tempo zurück: Sieglindes in der Walküre erstmals angestimmtes Jubelthema der Geburtsvorhersage eines Helden Siegfried mutiert nun so herrlich fließend zum Erlösungsmotiv, dass diese Götterdämmerung vernehmlich und glaubwürdig in einem Des-Dur enden kann, das zumindest aus dem Geiste der Musik heraus Hoffnung spendet für den Anbruch einer neuen Welt.
Diese Sängerdebütanten werden bald international gefragt sein
Die Sänger-Debütanten beglaubigen Schirmers Konzept mit exakt ausgearbeiteter Diktion und dem genauen Gespür für den Ausgleich von italienischen Legato-Bögen und deutscher Wagner-Wucht: Ob nun Thomas Mohr als heldisch heller, fast nimmermüde frischer und dazu auch noch edel tenorgeschmeidiger Siegfried-Naturbursche, der ein echte Alternative zu den wenigen internationalen Rollenvertretern werden dürfte. Ob Christiane Libors so pianoinnige wie durchschlagskräftige Brünnhilde. Oder ob Tuomas Pursio als prägnant baritonpotenter Gunther, der im Wolfgang Joop-Outfit den manierierten bisexuellen Schwächling geben darf.
Oper Leipzig
Wagner: Götterdämmerung
Ulf Schirmer (Leitung), Rosamund Gilmore (Regie & Choreographie), Carl Friedrich Oberle (Bühne), Nicola Reichert (Kostüme), Thomas Mohr, Christiane Libor, Rúni Brattaberg, Jürgen Linn, Tuomas Pursio, Marika Schönberg, Kathrin Göring, Gewandhausorchester
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