Seit Walter Sutcliffe die Oper Halle als Intendant übernommen hat, muss er – wie alle Amtskollegen – sein Haus durch die Klippen der Pandemie navigieren, also Ausfälle managen, Neuproduktionen stemmen und das Publikum bei der Stange halten. Das heutzutage Übliche eben. Äußerlich zeigt sich der Wechsel in der Führung des Hauses in einem neuen Logo. Ein großes Sternchen aus fünf Balken. Soviel wie Sparten der Bühnen Halle – Theater, Oper, Ballett, Puppe, Orchester. Dass das Haus mit dem mittlerweile republikweiten Dramaturgen-Eifer der Gender-Mode folgt und bei jeder Gelegenheit auch ein Sternchen in den Substantiven unterbringt, die sich auf menschliche Wesen beziehen, damit ja niemand auf die Idee kommt, nur Männer wären Menschen, mag ein Zufall sein. Ist aber eine Pointe, vor allem für die, die das eher für eine als Umerziehung getarnte Sprachverhunzung halten. Was ja vorkommen soll.
Wie auf der Dessous-Modenschau
Umso mehr freilich konnte man bei der jüngsten Produktion von Georg Friedrich Händels „Orlando“ staunen, mit welcher Unbekümmertheit da eine – nun ja: Überdosis – weiblicher Klischees aus der Vor-Sternchen-Zeit auf der Bühne präsentiert wird. Zumindest seine Damen-Kostüme könnte Ausstatter Gideon Davey bei einer Dessous-Modenschau ohne große Änderungen nachverwerten. Damit kein Missverständnis aufkommt: Die Damen machen das großartig, sowohl Franziska Krötenheerdt als selbstbewusste Angelica, als auch Vanessa Waldhart als kesse Dorinda und ebenso Yulia Sokolik in der Hosenrolle des Medoro sind nicht nur vokal auf der Höhe, sondern auch darstellerisch eine Augenweide. Mit Highheels auf dem Bühnenparkett und vollem Körpereinsatz ohne Mogelei – das muss man erstmal so hinbekommen.
Munteres Spiel mit Frauen- und Männerbildern
Es ging dem Regisseur erklärtermaßen um ein Spiel mit den Frauen- und Männerbildern. Wofür Orlando tatsächlich eine Steilvorlage liefert. Zu hinterfragen, was da heute noch in den Schichten des Unterbewussten latent vorhanden ist oder auch forciert zu tage gefördert wird, das gelingt Sutcliffe tatsächlich. Wobei der von Orlandos Flamme Angelica geliebte Medoro überzeugend einen Softie-Mann spielt, der bewusst feminine Züge auch äußerlich zulässt. Dadurch gibt es in einer Szene, die auf einen Dreier mit Angelica und (hier der Putzfrau) Dorinda hinausläuft, keine Peinlichkeit beim Entblättern. Da darf der BH unterm zarten Mehrtagebart-Gesicht eben anbleiben. Und es passt irgendwie.
Orlando, der Muster-Macho
Dennoch findet man das Zurschaustellen von „Verführerinnen“-Klischees in dieser Überdosis (trotz des ästhetischen Reizes!) zunehmend als unbehaglich. Vor allem, weil sich erst gegen Ende des Dreieinhalbstunden währenden Abends herausstellt, dass es sich dabei um (ja auch klischeehafte) Männerfantasien eines Muster-Machos von heute handelt. Dieser Orlando laviert zwischen Ehrgeiz im Beruf und der Sehnsucht nach Liebe, verliert darüber sogar den Verstand und wird (allerdings nur in seinem Wahn) sogar zum Mörder. Mag sein, dass die beschriebene Wirkung ein Indiz für die sensibilisiertere Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse in metoo-bewegten Zeiten ist. Insofern geht die Über- bzw. Fortschreibung der Geschichte durch eine Studie zur Gegenwart, die Sutcliffe hier anvisiert hat, voll auf. Dass da immer ein Rest von Unlogik bleibt, liegt einfach an der Kunstform Oper, noch dazu, wenn ein lieto fine vorgeschrieben ist.
Im singlegeeigneten Zweietagenloft
Da Sutcliffe die Spielführerfigur Zoroastro mehr vom Magier zum Prinzip wandelt, muss er die Reichweite seiner Eingriffe in das Geschehen nicht bis ins letzte Detail aufgehen lassen. In dem schicken singlegeeigneten Zweietagenloft Orlandos, u.a. mit einem in die Waagrechte gedrehten Rothko an der Wand hinterm Glastisch, erscheint Zoroastro (mit all seiner vokalen Autorität: Ki-Hyun Park) mit seinem philosophisch verbrämten Ermanne-Dich-Gerede erst auf dem Bildschirm und betritt dann als Person die Szene. Die schicke Drehbühnen-Behausung ist unterkellert – hier werden zweitweise beide Frauen gefangen gehalten und gefilmt, hier präsentiert der dem Wahn verfallene Orlando ihnen sogar den Kopf Medoros in einer Plastiktüte. Auf der Rückseite des Loft wird eine schräge Spielfläche in einer geneigten Spiegelwand sinnfällig und opulent reflektiert.
Deutschlands drei große Händelfestspiele im kollegialen Konkurrenzkampf
Aber es waren nicht die aktuellen Debatten, die zur Wahl des 1733 uraufgeführten „Orlando“ als Beitrag des Opernhauses zu den Händelfestspielen 2022 führten. Es ist eine historische Reminiszenz an das Programm der ersten Festspiele von 1922, die die größten der drei deutschen Händelfestspiele als ihre Nummer eins ansehen. Seit vielen Jahrzehnten haben die Hallenser damit in Sachen Händelpflege die Nase (mit) vorn. Schon durch den Beitrag des Opernhauses für die Festspiele sind immer mindestens zwei Werke des Meisters im Repertoire. Das dürfte es nirgendwo sonst geben.
Multiple musikalische Authentizität
In Halle ist man natürlich längst durch mit allen 42 Händeolpern – den hiesigen Vorgänger „Orlando“ gab es 1993. Händel im Wandel der Zeiten – das ist ein Kontinuum der Festspiele. Ein künstlerisches ist das Händelfestspielorchester. Es ist Teil der Staatskapelle und hat seine Ausrüstung mit historischen Instrumenten ebenso vervollkommnet wie den Umgang damit. Das gilt für die beiden Spezialorchester in Göttingen und Karlsruhe ebenso, man ist da in einem freundschaftlich befruchtenden Wettbewerb. In Halle mit wechselnden Gastspezialisten am Pult. In diesem Jahr ist es Christian Curnyn, neben Sutcliffe und Davey, der dritte Brite im Bunde. Was ja im Falle des in Halle geborenen, aber in London zum Weltstar gewordenen Händel geradezu authentisch ist. Dass der Dirigent vor allem auf einen eher ausgewogenen, anschmiegsamen Schönklang setzte, mag weniger am psychologisierenden Zugang der Inszenierung gelegen haben, als am geradezu liebevollen Umgang mit den Stimmen.
Als einziger Gast unter den Protagonisten gelang es dem Altus Xavier Sabata zwar überzeugend, diesen Orlando als Mann in der Selbstfindungskrise zu spielen, und die Koloraturen mit einem gefühlvoll warmen Timbre zu präsentieren. Aber die Überwältigung durch den gelegentlichen fulminanten Ausbruch (die Vorlage von Ariosto heißt ja „Orlando furioso“) vermisste man dann doch. Den magischen Händelmoment gab es aber auch unmittelbar vor der Pause: Als Franziska Krötenheert als Angelica ihre klagend besorgten Töne mit einem so atemberaubenden Piano aus dem Nichts holte, dass man es gehört hätte, wenn die berühmte Stecknadel zu Boden gefallen wäre. Mit einem kleinen Vorsprung ging sie denn auch als erste des fabelhaften zu vier Fünfteln hauseigenen Ensembles durchs Ziel.
Händelfestspiele Halle
Händel: Orlando
Christian Curnyn (Leitung), Walter Sutcliffe (Regie), Gideon Davey (Bühne & Kostüme), Carlo Mertens (Dramaturgie), Xavier Sabata, Franziska Krötenheerdt, Yulia Sokolik, Vanessa Waldhart, Händelfestspielorchester Halle