Ich mache mir Sorgen, dass die Opernhäuser immer weniger Teil der städtischen Gesellschaft sind und so außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung geraten“, sagt Hartmut Haenchen. 15 Jahre lang war der gebürtige Dresdner Generalmusikdirektor der Niederländischen Oper, fünf Jahre lang Leiter der Musikfestspiele in seiner Heimatstadt. Als ständiger Gastdirigent wirkt er am Royal Opera House Covent Garden und am Teatro Real in Madrid – allein in Deutschland wird er in absehbarer Zeit keine Opernproduktion mehr dirigieren. Dabei hatte ihm der mit viel Medienrummel als Semperopern-Intendant inthronisierte (und dann mit noch mehr Wirbel schon vor Amtsantritt wieder in die Wüste geschickte) Serge Dorny in Dresden eine künstlerische Führungsrolle zugedacht. Doch am Ende kam kein einziger Stückvertrag zustande: Man habe seine „Minimalforderung“ nicht erfüllt, klagt Haenchen – nämlich die Garantie, dass bei Generalprobe, Premiere und in der ersten Vorstellung dieselben Musiker spielen.
Unzureichende Proben mit wechselnden Beteiligten
Für Haenchen kein Einzelfall, sondern ein Symptom für die Qualitätsfeindlichkeit des in Deutschland immer noch dominanten Repertoiresystems. Zu dem dann die unzureichenden Probezeiten für Wiederaufnahmen hinzukämen: „Das Publikum muss Vertrauen haben, dass das, was ihm vorgesetzt wird, Qualität hat“, fordert er und setzt sich vehement für das in West- und Südeuropa übliche Stagione-Prinzip ein. Dort würden Wiederaufnahmen wie Premieren behandelt und die identische Zusammensetzung von Ensemble und Orchester für eine Aufführungsserie weit besser gewährleistet.
Ein Weg, der in der Tat außergewöhnliche Ergebnisse hervorbringt, wie etwa auf dem jüngst ausgezeichneten DVD-Mitschnitt seiner Brüsseler Parsifal-Produktion zu erleben ist. Regie führte der italienische Performance-Künstler Romeo Castellucci: „Ein ausgezeichneter Partner. Einer, der hinhört“, erzählt er von der gemeinsamen Arbeit. Solch eine intensive Kooperation mit dem Regisseur sei einfach unverzichtbar für eine Opernaufführung – gerade wenn der Regisseur keinen Klavierauszug lesen könne, was ihm als Taktgeber keineswegs behagt habe: „Bei Regieexperimenten von Opernfremden ist es oft wie bei Des Kaisers neue Kleider: Besonders die Medien sagen ‚Das ist ganz spannend, ganz anders, ganz neu!‘ – niemand traut sich zu sagen, dass einfach schlecht produziert wurde.“ Was in Brüssel zum Glück nicht der Fall gewesen sei.
Grundsätzlich aber rät der Dirigent, mehr aufs Publikum zuzugehen, „ohne sich der unteren Grenze anzugleichen. Man darf das Publikum nicht unterschätzen. Man muss es mitnehmen.“ Und empfiehlt den Theatern, verstärkt nach ‚draußen‘ zu gehen: auf öffentliche Plätze, in Schulen und Universitäten, um so Schwellenängste abzubauen. Bei den Dresdner Musikfestspielen senkte Haenchen auf diese Weise den Altersdurchschnitt im Publikum binnen kurzer Zeit um etliche Jahre.
Was im Umkehrschluss natürlich nicht heißen dürfe, das ältere Publikum zu vernachlässigen, denn: „Die Alten werden immer älter und immer länger in die Oper gehen.“ Und würden damit zu einem entscheidenden Faktor für die Zukunft des Musiktheaters angesichts der dramatischen Situation nahezu überall in Europa, wo die Kultur und damit auch die Opernhäuser drohten, finanziell ausgehungert zu werden. „Sparen kann man nur in guten Zeiten. Wenn wir die Kultur vergessen, wird Europa untergehen wie das Römische Reich.“
Mehr Identifikation mit der Stadt und ihrem Opernhaus
Dennoch sieht er allen Bedenken zum Trotz die Zukunft der Oper moderat optimistisch, wünscht sich aber generell eine stärkere, verantwortungsvollere Identifikation von Künstlern mit ihren Häusern und Städten, um dem Publikum eine ebensolche auch weiterhin zu ermöglichen. So war Haenchen selbst während seiner Zeit als GMD in Amsterdam über die Hälfte des Jahres vor Ort präsent und dirigierte pro Spielzeit weit mehr als hundert Vorstellungen und Konzerte. Eine Präsenz, die dann auch Spielpläne eröffne, in denen neue Stücke nicht länger Exoten blieben. Was für ihn indes nicht Moderne um jeden Preis bedeutet: „Wenn ich eine Partitur lese, meine ich zu merken, ob der Komponist seine Musik gehört hat, bevor er sie aufgeschrieben hat oder ob er sie aufgeschrieben hat, um zu hören, wie es klingt“, sagt der Dirigent. „Kopfgeburten, die keine Klanggeburten sind, halte ich für uninteressant.“
Seine nächsten eigenen Opernprojekte sind denn mit Glucks Iphigénie en Tauride in Genf und Fidelio in Madrid auch gute alte Bekannte – wenngleich im dramaturgischen Kontext seines zweijährigen War & Peace-Projekts, das ihn in 16 Länder führt. Eine echte Herzensangelegenheit für Haenchen. Doch auch wenn er sich dadurch im Gegensatz zu sonstigen Operndirigaten „um tausende von Details zu kümmern“ hat, sein Ziel bleibt auch hier das immer gleiche: „Am Ende ist nur wichtig, dass das Publikum berührt wird.“