Barrie Kosky als Regisseur stellt die Weichen des vergessenen Werks Castor et Pollux vollends auf Moderne. Denn die heute kaum noch nachvollziehbare Götter-Helden-Allegorie war in der ersten Fassung der Oper durchaus noch präsent: Diese Fassung begann in dem Augenblick, als Castor bereits einer Familienintrige zum Opfer gefallen ist – die Chance, sich mit dieser Gestalt zu identifizieren und betroffen zu sein, war für den Zuschauer vertan. Nun, dem elitären Publikum des Barock ging es, zumindest in der Oper, ohnehin nicht um Einfühlung, sondern um repräsentative Spiegelung des Selbst in antiken Stoffen, ob mit totem oder lebendigem Personal – doch uns heute geht es um Einfühlung in Lebende, um nichts anderes. Deshalb verwendet Kosky Rameaus zweite Fassung der Oper von 1754: Hier hat der Tod des Helden Castor (souverän mit lyrischem Tenor: Allan Clayton) eine Vorgeschichte im Kreuzverhältnis der Brüder Castor und Pollux sowie der Schwestern Télaïre und Phébé (stimmlich sehr individuell und unterschiedlich, doch gleichbleibend auf hohem Niveau: Nicole Chevalier und Annelie Sophie Müller). Der Zuschauer weiß nach der anfänglichen turbulenten Mini-Tragikomödie, weshalb er um Castor trauern muss und weshalb Pollux (barocke Verzierungen trotz romantischem Timbre: Bass Günter Papendell) seinen Bruder aus der Unterwelt zurückholen will.
Der Rest ist eine Erörterung des Jenseits-Gedankens mit treffsicher freudianisch eingesetzten Theatermitteln. In einem geschlossenen Fantasieraum aus Holzfurnier – das Jenseits ist unangenehm diesseitig und keiner kann entrinnen – erhebt sich ein steiler Erdhügel, an dessen Oberfläche sich Lebende und Tote, Totengötter und Geister die Klinke in die Hand geben. Das finstere, alptraumhafte Geschehen steht in einem reizvollen Kontrast zur lichten Musik. Es spielt sich stets im Rahmen und mit den unscheinbar-modernen Kostümen des bürgerlichen Hochzeitsfests ab, auf dem Castor ermordet wurde. Rameaus ausgiebig eingesetzte Barocktänze werden weder getanzt noch weggekürzt, sondern zur genaueren Charakterzeichnung der Figuren eingesetzt.
Ein echtes Erlebnis ist das Orchester der Komischen Oper unter der Leitung von Christian Curnyn. Ihr in den letzten Jahren erworbenes Wissen um barocke Aufführungspraxis trifft sich zum Gewinn dieses atemlos ereignisreichen Theaters mit Rameaus Klängen, deren Härte, Biegsamkeit und Eleganz einen neuen Akzent im Kanon Alter Musik setzen könnte.
Komische Oper Berlin
Rameau: Castor et Pollux
Ausführende: Christian Curnyn (Leitung), Barrie Kosky (Regie), Katrin Lea Tag (Bühne, Kostüme), Ulrich Lenz (Dramaturgie), Günter Papendell (Pollux), Allan Clayton (Castor), Nicole Chevalier (Télaïre), Annelie Sophie Müller (Phébé), Alexey Antonov (Jupiter), Bernhard Hansky (Hohepriester des Jupiter), Aco Aleksander Bišćević (Mercure)
Termine: 15. & 30.5, 06.06., 12.07.
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