Wenn die immerwährende Gültigkeit des Mythos und die konkrete Gegenwart des Politischen zusammenfließen, verliert das Musiktheater alles Unzeitgemäße, alles künstlerisch Verspielte, alles einfach nur Schöne. Die Hamburger Musiktheater-Truppe „Kommando Himmelfahrt“ stößt seit 2008 immer wieder in solche Grenzbereiche vor – ihre inhaltliche Vorliebe für Utopien korrespondiert dabei mit einer formalen Durchlässigkeit der Künste: ob in Musiktheater, Performance, szenischem Konzert oder Theater mit Musik lassen Jan Dvorak, Thomas Fiedler und Julia Warnemünde auf unorthodoxe Weise Text und Musik aufeinandertreffen. Bestechend war jetzt ihre Idee, das epische Gedicht Paradise Lost des John Milton (1608 – 1674) mit den Gedanken und im besonderen der Musik der 68er-Generation zu konfrontieren. Dazu trägt Schauspielerin Sarah Sandeh ihren Milton vor, und zehn in die Jahre gekommen Herren „aus dem Umfeld der 68er“ finden sich zum Chor der ergrauten Rebellen zusammen, singen rockige Lieder auf englische Originaltexte John Miltons, begleitet von einer klassischen Bandbesetzung aus Gitarre, Bass, Keyboards und Schlagzeug.
So weit, so gut. Die Brechtsche Trennung der Elemente, hier die One-Woman-Show der grandiosen, sich verausgabenden, erst diabolisch verführerisch flüsternden, dann agitatorisch satanisch schreienden Sarah Sandeh, dort die zehn Revoluzzer von einst, diese Trennung scheint beabsichtigt, sie wird jedoch zu wenig dramaturgisch sinnhaft gemacht. Es bleibt beim bloßen Nebeneinander. Die zehn Jungs sehen zwar so aus, wie wir Spätgeborenen uns die Linken von damals vorstellen, wobei die Zahl 68 hier naturgemäß nicht nur an die Widerstandswelle von damals erinnert, sondern auch an das Lebensalter der rüstigen Rebellen gemahnt. Aber diesem Männerchor fehlt musikalisch einfach der Biss, der Geist des Widerspruchs, das Verneinende. Hier hätte ein Mehr an musikalischer Präzision, an Textdeutlichkeit und Liebe zum Detail den – im übrigen grässlich verstärkten – Choreinlagen geholfen, zu ihrer eigentlichen Wirkung zu kommen. So haben diese Zehn etwas liebenswürdig Nostalgisches – der eine oder andere hat seit 1968 einen Bierbauch angesetzt – aber luziferisch ist an diesem Abend nur die umwerfende Sarah Sandeh.
Dieser Wirbelwind des Widerspruchs ist wortgewaltig, frech und witzig. Sandeh holt John Milton in die Gegenwart, spürt sein Potenzial des Widerstands mit scharfer Ironie auf. Da turnt ein athletischer Geist, der stets verneint, über die Bühne von Hamburgs Kulturfabrik Kampnagel, ein Geist, der verneint und doch radikale Lebenslust, Genuss, Kreativität und Erkenntnisdrang will, der Adam und Eva satanisch böse verspottet und uns alle unmittelbar auffordert, wozu sie einen paradiesischen Apfel ins Publikum wirft: „Esst doch diese Frucht, die Euch zur Erkenntnis Eurer selbst führt.“ Zuvor hatte dieser weibliche Luzifer schon gestanden: „Besser in der Hölle Herr, als Knecht im Himmel sein.“ Wie gern hätten wir von alledem auch musikalisch mehr erfahren. Vom höllisch hammernden Schlagzeuger Leo Lazar gingen solche herrlich bösen Impulse oftmals aus. Der Chor ließ sie nur ahnen. Höllisch gut unterhalten fühlten wir uns trotzdem.
Kampnagel
nach John Milton: Paradise Lost
Ausführende: Kommando Himmelfahrt (Jan Dvorak, Thomas Fiedler und Julia Warnemünde für Konzeption, Komposition, Regie), Sarah Sandeh, Männerchor aus dem Umfeld der 68er und die Band „Himmelfahrt Music Hall“
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