Gänzlich verschwunden aus den Spielplänen war die Operette im Grunde nie. Die lustige Witwe, Der Zigeunerbaron und Die Csárdásfürstin gab es eigentlich sogar immer und überall: Regie führte in der Regel der verdiente Abendspielleiter, der dritte Kapellmeister führte den Stab und die Hinterbänkler des Ensembles durften einmal in vorderster Reihe singen. Operette, das war vor allem ein preiswertes Instrument der Kundenbindung. Sicher, in Salzburg experimentierte ein Nikolaus Harnoncourt auf hohem Niveau mit Johann Strauss, und in der „Bar jeder Vernunft“ erreichte Im Weißen Rößl mit Stars der Berliner Schauspielszene in kürzester Zeit Kult-Status. Doch die durchschnittliche Operettenaufführung sah schlicht und ergreifend verstaubt aus. Was da als werktreuer Umgang mit diesem sehr speziellen, oft fröhlich, fast anarchisch überbordendem, ausgelassen parodistischem Theatergenre ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit eine Huldigung an die piefige Prüderie der Wirtschaftswunderzeit.
Ein Australier hat der schönen Leich neues Leben eingehaucht
Vergangenheit. Denn die Operette ist wieder attraktiv geworden, selbst für ein jüngeres, von Haus aus opernfremdes Publikum. „Schuld“ daran ist in erster Linie ein Australier mit jüdischen Wurzeln: Als Barrie Kosky nämlich 2012 die Komische Oper in Berlin übernahm, stellte er die Operette ins Zentrum seines Spielplans und landete mit seiner Inszenierung von Paul Abrahams Ball im Savoy einen geradezu erdrutschartigen Erfolg. Dass er in den Hauptrollen Sprechtheaterstar Dagmar Manzel, Chansonette Katharina Mehrling und Musical-Legende Helmut Baumann aufbot, trug sicher dazu bei, die Produktion zum Stadtgespräch zu machen, doch vor allem war dieser Ball im Savoy hemmungslos laut und bunt: eine einzig überbordend fröhliche Party.
„Bei uns ist alles üppig!“, sagt Kosky. Und: „Bei Operette muss man den Achselschweiß riechen. Es darf auch ruhig ein wenig nach Knoblauch stinken. Operette ist nicht blank poliert. Sie hat Sex und Erotik.“ Für letzteres verantwortlich ist vor allem Choreograf Otto Pichler, der Koskys Inszenierungen jede Menge lasziver Bewegungsenergie zuführt, gern mit knapp bekleideten, jungen Männern an der Spitze: Hochkultur trifft Happening trifft Christopher-Street-Day.
Spielstätten-Hopping
Zeitgleich mit Kosky übernahm in München der Österreicher Josef E. Köpplinger das Gärtnerplatztheater – und durfte es nicht bespielen. Das Haus wird renoviert, Köpplinger hatte und hat die heikle Aufgabe, an verschiedenen Spielorten in verschiedenen Stadtteilen sein Publikum bei der Stange zu halten. Das gelingt ihm, indem er erfolgreich versucht, aus jeder Aufführung ein Fest zu machen – ein für Operette maßgeschneidertes Konzept. Wiener Blut siedelte Köpplinger im schnuckelig-plüschigen Cuvilliés-Theater an, Offenbachs Salon Pitzelberger – von der jungen Magdalena Schnitzler als augenzwinkernde Faschingsfeier aufbereitet – in der atmosphärisch eher unterkühlten Reithalle. „Diese Revuen hatten in genialer Verbindung von Entertainment und Kunst etwas Völkerverbindendes – und das ist bis heute eine Chance des Theaters, die wir ohne Wenn und Aber zu erfüllen haben“, umreißt Köpplinger die Funktion der Operette in unserer Zeit, spricht von „Unterhaltung mit Haltung“.
Sozialkritische Aspekte und ironische Brüche
Wer in die aktuellen Spielpläne schaut, sieht, wie sehr beider Beispiel Schule gemacht hat. Da gibt es neue Regiespezialisten fürs Unterhaltungstheater wie Bernd Mottl, der demnächst Dostals Clivia in Osnabrück inszenieren wird. Oder Roland Hüwe, dessen Land des Lächelns in Hagen ein gutes Beispiel ist für den neuen Operetten-Stil an kleineren Häusern: Hüwe nimmt Lehárs Fast-Oper ernst, entschlackt sie optisch – durchaus sinnlich – und erzählt die Geschichte sehr klar. Zusätzlich modelliert er kleine sozialkritische Aspekte und ironische Brüche, die der Nostalgielust des Publikums vielleicht noch ein wenig zu behutsam den Spiegel vorhalten, aber immerhin dazu führen, dass diese kaum spektakuläre Chinoiserie deutlich heutiger wirkt als etwa Turandot oder Madama Butterfly. Zudem führen die beiden Protagonistinnen vor, wie herrlich Operette klingen kann – wenn frau sie singen kann.
Mutige Komponisten gesucht
Abrahams Blume von Hawaii in Pforzheim, Zellers Obersteiger in Annaberg, Lehárs Schön ist die Welt in Ulm, Linckes Frau Luna in Münster und Mönchengladbach: Eine Operetten-Vielfalt, wie es sie viele Jahre nicht mehr gab und die Lust macht, dem oft gescholtenen Genre neu zu begegnen. Was allein fehlt, ist Neues. „Ganz toll wäre natürlich eine Operettenuraufführung: Doch welcher zeitgenössische Komponist kann das heute noch – und traut sich?“, fragt Barrie Kosky. Vielleicht findet sich ein solcher ja eher im Dschungel der U-Musik, nicht zuletzt, um die Operette nachhaltig in der Musiklandschaft des 21. Jahrhunderts verankern zu können. Stoff genug gäbe unsere Zeit zweifellos her.