Immer wieder lockt die vergleichsweise kleine Chemnitzer Oper ein erstaunlich überregionales Publikum ins einstige sächsische Manchester. Es soll ganze Freundeskreise von Berlin und Bayreuth geben, die regelmäßig die angeblichen Brennpunkte des kulturellen Lebens fliehen – hin zu einer vermeintlichen Provinz. Neuester Anlass hierfür dürfte Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold sein: hier zuletzt 1921 mit dem Chemnitzer Startenor Richard Tauber gespielt und mit ihrem wundersamen Titel eine herrliche Provokation für eine Stadt, die sich nach ihrem industriellen und architektonischen Niedergang immer noch kleiner macht, als sie ist. Als müsste man befürchten, dass der ewig bohrende Minderwertigkeitskomplex der einstigen Wirtschaftsmetropole genährt würde durch das symbolistische Werk eines 19-jährigen Genies, blieb das Publikumsinteresse übersichtlich – was für eine Verschwendung!
Korngolds verführerische Stärken grandios ausgespielt
Denn das prall-spätromantische Werk kann in Chemnitz all seine verführerischen Stärken ausspielen, was insbesondere Frank Beermann und der Robert-Schumann-Philharmonie zu danken ist. Wie illuster aus dem Graben die Farben leuchten, wie differenziert der Generalmusikdirektor sein Orchester die fast schon überinstrumentierte Partitur sprechen lässt, hat schon etwas Grandioses. Im Spannungsfeld zwischen einer seltsam veristischen Hyperpsychologisierung und der impressionistischen Klangmalerei scheint sich die Robert-Schumann-Philharmonie besonders wohl zu fühlen; die zahllosen Äquivalente der letzten Zeit, in der in Chemnitz Rares von Schreker, Pfitzner oder Reznicek aufgeführt wurde, belegen das.
Äußerst detailliert geprobt, vollführen besonders die Streicher die Glanzleistung, ihre stets homogene Einfärbung im Bruchteil einer Sekunde gezielt wandeln zu können, mal ganz abgesehen von einer stupenden rhythmischen wie intonatorischen Präzision. Beermann gibt mit dieser riesigen Palette an Ausdrucksmitteln, die ihm zur Verfügung stehen, Korngold seine Ehre wieder – als wirklich brillanter Orchesterkomponist. Dessen spätere Erfolge in der eher illustrativen Filmmusik Hollywoods hatten leider lange darüber hinweggetäuscht, dass er in seinen frühen und durch seine Emigration jäh abgebrochenen Blütejahren ein vielleicht epigonaler, auf jeden Fall aber unverwechselbarer Theatermann war. Hier jedoch erzählt vor allem die Musik selbst die Handlung.
Düstere Bilder ohne Querverweise zur Entstehungszeit
Helen Malkowsky zieht sich mit ihrer Inszenierung denn auch weit zurück, erzählt die Traumdeutungsgeschichte in düstren Bildern, ganz entschieden am durchaus schablonenhaften Libretto entlang. Das ist in jedem Fall verständlich, lässt aber viele interessante Querverweise und Bezüge zur Entstehungszeit um 1920 aus. Brügge, diese vom Meer abgeschnittene Gespensterstadt, wird durch Beleuchter Holger Reinke selbst zur Figur: Sie beschwört wie der Titelheld Paul mit beeindruckenden Licht- und Schattenspielen ihre (glückliche) Vergangenheit. Die Realität ist auch auf der von Harald B. Thor gebauten Bühne grau und eng, eine tote Gracht füllt im 3. Bild tatsächlich die Rampe mit Brackwasser und spiegelt so den Stillstand zur Verarbeitung unfähiger Seelen. Damit weist das Inszenierungsteam auf den Widerspruch hin, der schon im Stück angelegt ist: Die Hauptfigur darf sich kaum entwickeln, sondern ihre Psyche wird mit allen Mitteln der Kunst lediglich schlaglichtartig durchleuchtet.
Diese Interpretation ist eine weite Reise wert
Dass dies trotzdem ein großer, berührender Genuss ist, liegt neben dem Orchester vor allem an den Sängern, allen voran Pauls illustrem Freund Frank, dessen Rolle mit der des berühmten Pierrot verschmolzen wird. Der wunderbare Bariton Klaus Kuttler macht daraus veritable Kunst – mit einem geschmeidigen, gleichwohl ausdrucksvollen Timbre. Niclas Oettermann als Paul absolviert seine Wahnsinnspartie mit der unzumutbar hohen Tessitura sehr anständig, wenn auch spielerisch mit dem Charme eines Versicherungsvertreters. Seine als Amüsiertänzerin Marietta wieder auferstandene tote Frau Marie braucht Schmiss und Verführungskraft, Liebessehnsucht und Femme fatale-Pose gleichermaßen. Leider fehlt Marion Ammann der szenische Zugang zur vielschichtigen Figur, aber sie weiß durchaus deren widersprüchliche Extreme glaubwürdig in ihre beeindruckende Stimme zu legen. Chor und Nebenfiguren stehen dem guten Ensemble in nichts nach, verinnerlichen ganz und gar die vieldeutig-mystische Anlage. So sind denn Oper wie Interpretation eine weite Reise wert. Vor allem aber ist es der Mut des Theaters, immerfort das Risiko des Unbekannten zu suchen, den man gar nicht hoch genug schätzen kann.
Theater Chemnitz
Korngold: Die tote Stadt
Ausführende: Frank Beermann (Leitung), Helen Malkowsky (Inszenierung), Harald B. Thor (Bühne), Tanja Hofmann ( Kostüme), Niclas Oettermann, Marion Ammann, Klaus Kuttler, Tiina Penttinen, Guibee Yang, Carolin Schumann, André Riemer, Edward Randall