Eine unbekannte Schöne ist Genua mitnichten, eher eine vergessene Schöne voller Weltkulturerbe-Höhepunkte der Extraklasse: Die riesigen Renaissance- und Barock-Palazzi gern tödlich verfeindeter Patrizier-Geschlechter sind in der Via Garibaldi bunt herausgeputzt und in Serie zu bewundern. Wer das Intrigenspiel der reichen Genueser näher erspüren will, kann sich dazu die große Oper zu Gemüte führen, die hier ihren Ausgang nimmt. Verdis Simon Boccanegra, kompositorisch eine seiner besten Opern, in ihrer düster schwarten Tinte aber ein eher unbeliebtes Musikdrama, das durch den spätberufenen Bariton Plácido Domingo zuletzt doch wieder zu einigen Ehren gekommen ist.
Auferstehung eines Aschenputtels
Ein ganz anderes Opern-Aschenputtel ist derzeit in der einst sehr stolzen Stadt zu bestaunen: die Fedora des Verismo-Meisters Umberto Giordano, der durch den zuletzt wieder viel gespielten Andrea Chenier zu Ruhm und Ehren gelangte. Am Teatro Carlo Felice stand das 1898 in Mailand uraufgeführte Drama seit 1899 regelmäßig auf dem Spielplan, zuletzt im Jahr 2000 mit der berückenden Sopran-Lyrikerin Mirella Freni in der für sie sehr dramatischen Grenzpartie der russischen Fürstin Fedora. Die jetzige Neuinszenierung in Starbesetzung stammt von Rosetta Cucchi, die jüngst am Theater Lübeck mit ihren klugen Interpretationen des Doppelabends aus Cavalleria Rusticana und La vida breve sowie von Mozarts Idomeneo italienisches Stilempfinden mit deutscher Regie-Ambition zu versöhnen wusste.
Opernland Italien am Scheideweg: Qualität kämpft gegen Schuldenberg
In Genua fällt die Arbeit der international tätigen Italienerin in eine entscheidende Umbruchphase. Das große, nach seiner fast kompletten Zerstörung im Zweiten Weltkrieg erst 1991 wiedereröffnete Teatro Carlo Felice, mit seinen über 2000 Plätzen so imposant wie überdimensioniert wirkend, stand nach der Ansammlung eines Schuldenbergs von 17 Millionen Euro noch 2010 kurz vor dem Konkurs. Wie die anderen, ebenfalls krisenerprobten Opernhäuser des Stiefelstaats steht man nach einer Strukturreform der Kulturförderung dort jetzt am Scheideweg. Subventionen werden künftig nicht mehr nach der Höhe der Personalkosten bewilligt – eine letztlich unfassliche Einladung zu Schlendrian und Output-Minimierung, sondern an die Zahl der Vorstellungen und deren Qualität sowie die Einwerbung von Sponsorengeldern gebunden – ein vernünftiges zukunftsweisendes Konzept der Regierung Renzi.
„Auf nach Genua!“
An Qualität nun mangelt es Genua mitnichten. Das musikalische Niveau ist hoch, es braucht auch den Vergleich mit großen Häusern in Deutschland nicht zu scheuen. Auch szenisch bewegt sich das Theater jenseits der Traditions-Starre des Landes, in dem das Musiktheater vor 400 Jahren mal erfunden wurde. Allarmierend freilich ist die Tatsache, dass die Premiere bei weitem nicht ausverkauft war. Immerhin nutzen viele Franzosen die Nähe und die niedrigen Eintrittspreise für einen Abstecher, deutsche Opernfans sieht man kaum, ihnen will jetzt man zurufen: „Nix wie hin nach Genua!“
Italiens Operntraumpaar: Daniela Dessì und Fabio Armiliato
Bester und schönster Grund: Italiens Operntraumpaar ist hier in für sie perfekten Rollen zu erleben. Daniela Dessì und Fabio Armiliato geben Fedora und Loris. Sonst gern und erfolgreich als Tosca und Cavaradossi unterwegs dürfen die beiden profilierten Sängerdarsteller als ideale Interpreten Alberto Giordanos gelten. Böses Sängerpech nur, dass Armiliato die Premiere wegen einer nicht abgeklungenen Erkältung gleichsam last minute an die Zweitbesetzung abtreten musste. So kam der wackere, tenorbeleibte Rubens Pelizzari vorzeitig zum Einsatz, bewies Stehvermögen und Strahlkraft, enttäuschte aber durch flache Tongebung im Mezza Voce und darstellerische Einfalt. Die musikalische Intelligenz, das besondere Timbre und den Charme von Fabio Armiliato werden nun erst ab der dritten Vorstellung zu genießen sein. Ebenso das Prickeln der Bühnenküsse eines Sängerpaars, das in Theater und Leben zugleich seine Liebe leben darf. Die Idee des Verismo, der um Wahrhaftigkeit ringenden naturalistischen Spielart des Musiktheaters, muss auf solchen Besetzungswegen seine ungeahnte Verwirklichung erfahren.
Flammende Intensität und pralle Primadonnenpräsenz: Daniela Dessì und die Dramatik alter Schule
Dafür hatte in der Premiere nun Daniela Dessì zu sorgen. Und die gebürtige Genueserin übertraf alle Erwartungen. Gleich Fedoras erstem Auftritt im Petersburger Palast ihres zukünftigen Gemahls schenkt La Dessì ihre ganz eigene enorme Primadonnenpräsenz. Konzentriert in der Gestik, gefühlsdicht in der Mimik hat die Sängerin dieses gewisse Etwas großer Sängerinnen alter Schule, das sich in jeder Pore ihres Daseins als Aura verbreitet. Fern von der coolen Relativierung ihres Berufs, das viele heutige junge Sänger auszeichnet, spürt man bei der Dessì dieses im allerbesten Sinnen unmoderne Sängerinnen-Sein. Habitus, Haltung eben, hat sie auf wie hinter der Bühne. Und auch rein stimmlich ist sie in stupender Verfassung. Ihr in allen Lagen stark strukturierter, voluminöser echter dramatischer Sopran hat viel Körper und besitzt dramatische Durchschlagskraft. Ihr wohl dosiertes Vibrato gleicht einem aufregenden wie delikaten Flackern, das sie stets behutsam in den Dienst der Ausdrucks-Intensivierung stellt. Ihr dichter Tosca-Ton hat in der Höhe die genau richtige Spinto-Schärfe, die der starken, vom Verstandes- zum Gefühlswesen sich wandelnden Petersburger Prinzessin enormes Tragödinnen-Profil verleiht.
Warum nur ist La Dessì in Deutschland so wenig zu hören?
Während Cecilia Bartoli Italiens unangefochtene Primadonna des Barock und Belcanto ist, darf Daniela Dessì für sich beanspruchen, Italiens letzte wahre Primadonna des Verismo- und Verdi-Gesangs zu sein. Die Klage von Intendanten und Feuilletonisten, es gäbe momentan kaum mehr große dramatische Soprane für eine Aida, Tosca oder Turandot, muss angesichts von Daniela Dessì verstummen. Warum nur ist diese fantastische Sängerin in Deutschland so wenig zu hören? Passen Persönlichkeiten wie sie mit den Regiediskursen nördlich der Alpen nicht zusammen?
Drei-Ebenen-Inszenierung funktioniert prächtig
Wer La Dessì in Genua sah, wird diese Vermutung wieder verwerfen. Denn ihre Durchdringung der Figur der Fedora ist maximal. Musik und Szene verbinden sich hier nicht ohne deutlichen Interpretationswillen. Dazu hat Regisseurin Rosetta Cucchi die Handlung behutsam aus den 1880er Jahren ins revolutionäre Russland des Ersten Weltkriegs mit seinem blutigen Ende der Zarenfamilie verlegt, was uns das Drama Sardous, der auch die Tosca-Vorlage schuf, entscheidend näher heranrückt und allen verblümten Salon-Kitsch des 19. Jahrhunderts geschickt meidet: Fedora verliebt sich in den Mörder ihres Verlobten, folgt dem Flüchtigen zunächst als Racheengel nach Paris, genießt mit ihm Stunden der Alpenidyllen-Zweisamkeit in der Schweiz, wo sie sich im Bewusstsein ihrer Schuld an der Bestrafung der Familie des geliebten Mörders das Leben nimmt. Drei Ebenen strukturieren die Szene. Vorn sitzt Fedoras Liebhaber Loris als Greis, der die in der Bühnenmitte gespielte Haupthandlung wie in einer Bilderbuchrückblende erlebt. Ganz hinten verklammert ein Seelenraum der Protagonisten die Zeitebenen. Hier wird Loris zum Schluss seinen späten Tod finden. Geschickt spielt Cucchi mit den Ebenen wie den textlichen Zitaten etwa der hier explizit genannten Champagner-Witwe Clicquot oder den die jeweilige Nationalfarben der Akte malenden Einlagearien.
Der junge Maestro Valerio Galli weiß, worauf es ankommt
Auch in den mittleren und kleinen Partien lassen immer wieder Sänger aufhorchen. Stellverstretend seien hier nur der grandiose Bass-Veteran Luigi Roni als Cirillo oder die munter soubrettenzwitschernde Daria Kovalenko als Olga genannt. Der junge Maestro Valerio Galli versteht am Pult des Orchester des Teatro Carlo Felice sehr genau, sowohl die grelle Glut der Farben als auch die Feinheit und das Fließen der Phrasen herauszuarbeiten, derer es bedarf, damit die Sänger die mitunter melodramatische Deutlichkeit der Artikulation in das akustisch nicht unproblematische Haus transportieren können.
Dessì und Armiliato im Sommer
Nicht nur die späteren Fedora-Vorstellungen, auch der Opernsommer bringt Daniela Dessì und Fabio Armiliato dann wieder gemeinsam auf die Bühne. In Puccinis toskanischer Heimstadt Torre del Lago sind die beiden in ihren Paradepartien als Tosca und Cavaradossi auf der Seebühne zu hören – am 24. & 31. Juli sowie am 15. & 21. August.
Teatro Carlo Felice
Giordano: Fedora
Valerio Galli (Leitung), Rosetta Cucchi (Inszenierung), Tiziano Santi (Bühne), Claudia Pernigotti (Kostüme), Daniela Dessì, Rubens Pelizzari, Alfonso Antoniozzi, Daria Kovalenko, Margherita Rotondi, Manuel Pierattelli, Alessandro Fantoni, Luigi Roni, Claudio Ottino, Roberto Maietta, Davide Mura, Sirio Restani, Luca Alberti, Orchester und Chor des Teatro Carlo Felice