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Opern-Kritik: Teatro alla Scala – Turandot

Kafkaesker Kampf der Geschlechter

(Mailand, 1.5.2015) Riccardo Chailly, Nikolaus Lehnhoff und Nina Stemme deuten Puccinis unvollendeten Schwanengesang am Ort seiner Uraufführung neu

vonKirsten Liese,

Die gewaltige Palastmauer schimmert rot wie Blut. In den ausgestreckten Armen der Schaulustigen blitzen Messer. Schon viele Freier mussten hier ihr Leben lassen, weil sie Turandots Rätsel nicht lösen konnten, nun steht wieder eine Hinrichtung bevor. Das Schreckensregime der chinesischen Prinzessin vermittelt sich in der Mailänder Produktion jedoch nicht über abgeschlagene Köpfe auf Pfählen, sondern vielmehr über eine gespenstisch kafkaeske Bildlichkeit. Die Exekutierten erscheinen als bizarre Traumgestalten mit schwarzen Zylinderhüten und leuchtenden Armstummeln. Und so wie Puccini die Psychologie der geheimnisvollen, heiß begehrten und ebenso frostigen Turandot beschäftigte, rückt Nikolaus Lehnhoff ihre Konfrontationen mit dem Prinzen Calaf konsequent ins Zentrum seiner Inszenierung.

 

Turandots Keuschheitsgürtel

 

Es geht dabei nicht nur um eine gefährliche Prüfung, sondern um einen Kampf der Geschlechter, um Nähe und Distanz. Er drückt sich unspektakulär im subtilen Spiel der Sängerdarsteller aus. Die grausame, männerscheue Prinzessin schirmt sich machtbewusst gegenüber Calaf ab, sie trägt eine Art stählernen Keuschheitsgürtel vor ihrem Körper, lässt keinen weiteren Schritt in ihre Richtung zu. Als dann aber unverhofft der Werber seine Probe besteht, durchbricht er ihre Schutzzone und entreißt ihr die Stange.

 

Märchenhafte Schauwerte

 

Die imposante Bühnenarchitektur von Raimund Bauer, die von Andrea Schmidt-Futterer entworfenen prächtigen Kostüme und fernöstliches Kolorit aus alten Kaiserzeiten bescheren der ansprechenden Produktion vor allem auch große Schauwerte. Unweigerlich fühlt man sich an den Altmeister Zeffirelli erinnert. Im benachbarten Scala-Museum präsentiert das Archivio Ricordi diverse Turandot-Kostüme vergangener Jahrzehnte, prächtige Garderoben mit meterlangen Schleppen. Schmidt-Futterer hat zwar auf die Schleppe verzichtet, aber auch ihren Kreationen haftet etwas zauberhaft Märchenhaftes an. Einen besonderen Blickfang bildet eine schneeweiße, raffinierte Rüschenkreation, in der sich Turandot zum ersten Mal in einem runden Portal in der oberen Palastmauer zeigt.

Dass viele Zuschauer instinktiv den Drang verspürten, diese Schönheit mit der Kamera festzuhalten, lässt sich vielleicht verstehen, zur Gewohnheit werden sollte diese Unsitte jedoch nicht. Vor allem für die Sänger ist es sehr unangenehm, mit Blitzlicht geblendet zu werden.

Kreidebleiche Kollektive in Schockstarre

Dank dieser Schauwerte wird der Abend trotz einer gewissen Statik in der Inszenierung nie lang. Die sparsame Personenregie macht Sinn, allgegenwärtig ist die Angst. Sie steckt vor allem dem Chor in den Knochen. Lehnhoff arrangiert die Menschenmassen als kreidebleiche Kollektive in Schockstarre.

Riccardo Chailly, der neue musikalischer Leiter des Orchesters, liebt es laut

Riccardo Chailly hingegen reizt die monumentalen Chorszenen in ihren dynamischen Spitzen bis in äußerste Extreme aus. Er fokussiert damit vor allem die brutalen Facetten der Oper. Darin folgt er als neuer musikalischer Leiter des Orchesters der Mailänder Scala seinem Vorgänger Daniel Barenboim, der ebenfalls in seinem Element ist, wenn es laut wird. Nur gelingen Barenboim oftmals auch subtile, nuancierte Pianotöne, die Chailly in der Turandot weniger evoziert.

 

Allerdings stand Chailly auch keine erstklassige Liù vom Format einer Renata Tebaldi oder Mirella Freni zur Seite. Die opferbereite, selbstlose Sklavin ist die lyrischste Figur in der Oper, Puccini schrieb zwei seiner schönsten Arien für sie. Die Sopranistin Maria Agresta singt sie weitgehend kultiviert, jedoch mit etwas dicklichem Vibrato und nicht zärtlich genug. Dagegen gelang der Schwedin Nina Stemme in der Titelpartie ein allemal achtbares Rollendebüt. Ihre Stimme besitzt die erforderliche Größe, Strahlkraft und Wucht, setzt sich mühelos noch im Fortissimo über das Orchester hinweg. Nur die Stimmführung wirkt noch nicht perfekt, gelegentlich flackert es in der Höhe.

 

Mit seiner Stimmgewalt beeindruckte auch der lettische Tenor Alexander Antonenko, nur szenisch gab er einen etwas uncharismatischen, steifen Calaf. Seine Leidenschaft drückte sich allein in der Stimme aus. Natürlich spitzten sich die Ohren vor allem bei seiner berühmten Arie Nessun dorma, die er mit dem gebotenen Schmelz sang aber weniger emotional und ergreifend als am Abend zuvor Andrea Bocelli. Der blinde italienische Star setzte mit dieser Arie beim Eröffnungskonzert der Expo auf dem Mailänder Domplatz ein finales Glanzlicht. Alle kleineren Nebenpartien der leicht chaplinesk angelegten Minister Ping Pong Pang (Angelo Veccia, Roberto Covatta, Blagoj Nacoski), Calafs Vater Timur (Alexander Tsymbalyuk) und dem chinesischen Kaiser Altoum (Carlo Bosi) waren trefflich besetzt.

 

Mit dem unvollendeten Schluss der Oper wollten sich Riccardo Chailly und Nikolaus Lehnhoff nicht zufrieden geben. Das von ihnen bevorzugte Finale von Luciano Berio bietet allerdings keinen allzu großen Mehrwert. Denn auch in diesem Schlussduett wirkt die schnelle Verwandlung der eisigen Frau in eine Liebende reichlich unmotiviert.

 

Teatro alla Scala

Puccini: Turandot

 

Ausführende: Riccardo Chailly (Leitung), Nikolaus Lehnhoff (Inszenierung), Raimund Bauer (Bühne), Schmidt-Futterer (Kostüme), Nina Stemme, Maria Agresta, Aleksandrs Antonenko, Alexander Tsymbalyuk

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