Nach einer Aufführung der Elektra in Basel offenbarte ein „biederer Schwyzer“, dass ihm die Oper „ganz großartig“ gefallen habe. Aber auf die Nachfrage: „Und die Musik?“ antwortete er: „Musik habe ich gar keine gehört!“ Die von Richard Strauss anno 1942 persönlich überlieferte Anekdote kommentierte er selbst lakonisch: „So ein Zuschauer ist mir lieber als ein kritisierender Dilettant, der die Musik schließlich doch nicht verstanden hat.“ Der bayrische Komponist, dessen Antikenoper am 25.1.1909 von Dirigent Ernst von Schuch in Dresden aus der Taufe gehoben wurde, wusste sehr wohl, dass er „bis an die äußersten Grenzen der Harmonik“ und der „Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen“ war. Strauss war 44 Jahre jung, als er seine riesig besetzte „Orchesteroper“ komponierte und „noch für germanische ff schwärmte“; gegen die gewaltigen Blechbläsersalven im Fortissimo macht er es auch seinen Sängerinnen und Sängern enorm schwer, sich stimmlich durchzusetzen. Allein dem „klangschönen Dresdner Musterorchester“ und dem „gewissenhaften Schuch“ war es zu danken, dass Strauss resümieren konnte: „Am Premierenabend war alles tadellos!“
„Hören und Sehen gehen durchaus nicht zusammen“
Der stürmische Kampf zwischen Wort und Ton aber tobt in der Elektra immer wieder, bis heute. Wo aber, wenn nicht am Ort der Uraufführung, sollte er in idealer Weise ausgetragen werden? Christian Thielemann am Pult seiner Staatskapelle und Barbara Frey als vom Schauspiel kommender Regisseurin obliegt es, Hugo von Hofmannsthals im Lichte der Psychoanalyse geschriebenes feinfühlendes Libretto und die sich ausrasende Musik von Richard Strauss auszutarieren. Doch hat der Text dabei überhaupt eine Chance? Der musikalische Philosoph Hans Meyer meinte dazu einst: „Das Hofmannsthal-Drama findet nicht statt“, stattdessen eine „Elektra-Symphonie für Singstimmen und Orchester nach einem Handlungsschema des Dramatikers Hugo von Hofmannsthal. Großartig und missverständlich.“
Barbara Frey betont, es sei mitnichten nur die pure Lautstärke, die diese Oper bestimmt: „Der Text ist eine ganz wichtige Kategorie. Man merkt einem guten Sänger genau an, was er denkt. Er will wirklich wissen, was er da singt.“ Wenn dann im letzten Duett der Schwestern Chrysothemis und Elektra Text und Musik sehr wohl in entgegengesetzte Richtungen weisen und „dieser merkwürdige hymnische Gestus von etwas tief Schwarzem übermalt wird“, müsse man „im Körper der Sänger einen Ausdruck dafür finden, dass Sehen und Hören durchaus nicht zusammengehen. Das ist hier wie mit dem Pfeifen im dunklen Wald: Man macht sich die Situation schöner als sie ist.“
„Elektra – ein riesiger Kollateralschaden“
Die Regisseurin stellt klar: „Letztlich handelt das Stück vom Krieg und seinen Folgen. Es ist ein einziger riesiger Kollateralschaden.“ In ihrer Regiearbeit geht es ihr nun aber um ein Konterkarieren dieser musikalisch vermittelten Gewalt durch menschliche Verletzlichkeit. Sie will in einem „Raum voller Leere“ die kleinen Körper der Sängerinnen zeigen, die mitsammen Figuren darstellen, die dem Tod anheimgefallen sind. Dabei geht es ihr um Reduktion, also „den Mut, wenig zu machen und dabei doch maximale Verdichtung herzustellen. Man muss aufpassen, dass man szenisch nicht ständig hinterherkommentiert, was die Musik gerade sagt.“ Frey beschreibt den Gegensatz, wie aus dieser feinnervigen Frau Elektra ein solcher Schrei und ein so gewaltiges Singen herauskommen. Und doch ist die Agamemnon-Tochter ein so empfindsames, gleichsam postheroisches Wesen – das wir „in der Physis der wunderbaren Evelyn Herlitzius kennenlernen müssen.“
Besonderes Augenmerk legt die Regisseurin auf die grandiose Szene des Wiedererkennens von Elektra und Orest: „Die Geschwisterbeziehung ist etwas Außergewöhnliches, biologisch besteht hier ja der engste Verwandtschaftsgrad überhaupt. In der Oper entsteht da ein Wärmeherd, der überwältigend ist und die Hoffnung auf eine bessere Welt danach aufscheinen lässt. Die Musik tönt so zart wie eine Zellmembran.“ Im Text wiederum spürt Barbara Frey eine „merkwürdige Nähe“, ja eine inzestuose Note auf. Und der rächende Bruder Orest stehe am Ende zwar für die politische Restitution, sei aber von Hofmannsthal als gebrochene Figur gezeichnet, die ihr als eine Art „steinerner Gast, als Untoter“ vorkommt.
Die von Strauss auskomponierte „psychische Polyphonie“ habe also unmittelbar auch etwas mit den Menschen dieses Stücks zu tun. Ruth Berghaus, die als Altmeisterin der Opernregie für die letzte Elektra-Inszenierung an der Semperoper verantwortlich zeichnete, sagte einmal: „Singen ist eine Existenzform.“ Ihre Sängerinnen und Sänger will Barbara Frey ermuntern, mit ihr etwas Grundsätzlich zu erkunden: „Was ist ein Mensch auf der Bühne, der singt, spricht und spielt? Was kann in den Köpfen, dem Gemüt und den Körpern der Sängerinnen Auskunft geben über dieses Desaster?“ Letztlich seien alle Figuren durch enorme Widersprüche charakterisiert, selbst der fast hysterisch überhöhte Wunsch der Chrysothemis, aus der Tragödie auszubrechen und Kinder zu kriegen, habe doch etwas Monströses.
Das Anziehende und das Abstoßende, das Zarte und das Heroische, das innige Klangbad und das blutspritzende Schlachthaus, die Utopie eines Morgen und der Zusammensturz ins Nichts nunmehr in eine schillernde, nie eindeutige Balance zu bringen – ist das nicht eine Ansage, um das Strauss-Jahr am Ort der Elektra-Uraufführung vielsagend einzuläuten?