So eindrücklich wie jetzt am Theater Bonn hat das Publikum wohl selten eine neue Literaturoper gefeiert. Das Geheimnis: der englische Komponist Julian Anderson hat für seine erste Oper wirkliche Theatermusik geschrieben, eine Partitur, die sich vor Text und Geschehen nicht versteckt, aber nie selbstzweckhaft wirkt. Vielmehr ist diese Musik sinnlich, immer klangprächtig und -mächtig, und dabei selten laut.
Verdichtung von drei Dramen des Sophokles
Gleich drei Dramen des antiken Meisterdichters Sophokles haben Anderson und sein Librettist, der im angelsächsischen Raum sehr erfolgreiche Dramatiker Frank McGuinness, zu einem Opernabend verdichtet. Um die Familientragödie des Ödipus geht es, um Tod, Fluch, Rache und Erkenntnis der eigenen Handlungsohnmacht. Eine Liebesgeschichte kommt nur am Rande vor. Dennoch: Was für ein Opernstoff! Auch wenn der Anfang etwas holprig gerät. Da muss viel Exposition vermittelt werden, und der analytischen Monologstruktur von König Ödipus ist mit Opernästhetik nur schwer beizukommen.
Dennoch lässt Andersons Musik bereits hier aufhorchen, durch ihre Dezenz und Klangfantasie. McGuinness hat gekürzt und verdichtet, wo es nur geht, will vor allem die Geschichte erzählen, als Sprungbrett für das, was folgt. Das ist für William Dazeley in der Titelrolle nicht einfach. Sein Bariton schimmert geschmeidig, aber die Figur bleibt glatt, ihr Leid dem Zuschauer fern. Da haben es andere leichter. Anjara I. Bartz begeistert mit dem Lamento der Jocasta genauso wie Rolf Broman mit dem Wutausbruch des in Frauenkleider gewandeten Tireisias und Jakob Huppmann mit flexiblem Counter als Schreckensbote.
Antigone: Politthriller voller Viertelnoten
Ein völlig verändertes Bild im zweiten Teil: Antigone kommt als 25minütiger Politthriller daher, in dem ausschließlich Viertelnoten gesungen werden. Der Chor, der auch zu knirschen und zu summen hat, schwingt sich hier zur zweiten Hauptperson auf, neben dem Kreon des umwerfenden britischen Countertenor Peter Hoare. Mit ungeheuer subtilen sängerischen Mitteln und sehr deutlicher Gestik zeigt er das aufrüttelnde Psychogramm eines überforderten Machtpolitikers, der Antigones Wahrhaftigkeit und die Integrität seines Sohnes erst wahrnimmt, als es viel zu spät ist. Zum Schluss, nach der zweiten Pause, wird Ödipus auf Kolonnos gegeben, ein schreckliches Endspiel voll brutaler männlicher Gedanken rund um die ihren Vater verlierende Antigone.
Regisseur Pierre Audi bleibt hinter der Brutalität der Geschichte zurück
Pierre Audi, der langjährige Intendant der Nederlandse Opera schafft es nicht, diese Brutalität theatralisch zu gestalten und zieht sich stattdessen auf seine Standardmittel zurück: Deutlich stilisierte Gestik und Schreiten im Einheitstempo in erlesener, fast überschöner Optik. Das ist alles handwerklich hervorragend gemacht, die Tableaus stimmen, aber dringen eben gelegentlich nicht zum Kern vor. Das übernimmt dann Yannick-Muriel Noah mit der umwerfend warm und klar gesungenen Schlussklage der Antigone.
Die Literaturoper ist tot? Es lebe die Literaturoper!
Das tut über den kompletten Abend hinweg auch der junge Kapellmeister Johannes Pell, vielleicht der nächste GMD der Oper Wuppertal, mit dem Beethoven Orchester. Wie er die überbordende Klangvielfalt, vom augenzwinkernd künstlich nachgeschöpften Naturgeräusch bis zum insistierenden Bassklarinetten-Ostinato, ausdifferenziert und aufbereitet, hört man wahnsinnig gerne. Fazit: Die Literaturoper scheint doch noch nicht ganz tot zu sein, zumindest, wenn sie sich an die großen, epischen Stoffe in zeitgemäßer, heterogener Erzählweise traut.
Theater Bonn
Julian Anderson: Thebans
Johannes Pell (Leitung), Pierre Audi (Inszenierung), Tom Pye (Bühne), Christof Hetzer (Kostüme), Volkmar Olbrich (Chor), William Dazeley, Peter Hoare, Yannick-Muriel Noah, Rolf Broman, Anjara I. Bartz, Jakob Huppmann, Christian Georg, Giorgos Kanaris, Nicholas Probst, Chor des Theaters Bonn, Beethoven Orchester Bonn