Weil der Theaterpraktiker Jacques Offenbach nach dem lauen Uraufführungserfolg viele bemerkenswerte und zauberhafte Stellen seiner sprichwörtlichen „Grande-Duchesse de Gérolstein“ im Pariser Weltausstellungsjahr 1867 dem Rotstift opferte, wurde das ein Freibrief für spätere Entstellungen und Vereinfachungen. Denn im Kontext der Diven-Entsagungs- und Opferrollen (1867 war auch das Uraufführungsjahr von Verdis „Don Carlo“ und Gounods „Roméo et Juliette“) ist die Titelfigur keineswegs ein nymphomanes Dummchen, welches ihre Gespielen nach Lust und Laune erigiert oder deprimiert. Und die toxisch männliche Kleinstaat-Soldateska ist keineswegs nur das Ziel scharfer Satire, wie uns das Offenbach-Experten weis machen wollen. Also gab es in der Komischen Oper Berlin als Corona-“Notprogramm“ eine Premiere mit durchdacht collagiertem Retro-Trash. Alles unter leichtem Druck, mit null Bühnenbild und einer kalt geschliffenen musikalischen Leistung vom Feinsten.
Unisex-Krinolinen
Dance Captain eines Traumquartetts mit Michael Fernandez, Marcell Prêt und Lorenzo Soragni ist Mariana Souza. Schwere Helme und Krinolinen mit Durchmessern von drei Metern verhindern Poussieren, Fummeln und Schmusen. Sogar wenn die Großherzogin den mit Orden übersilberten General Fritz unter ihrem Rock begräbt, ist dort noch genügend Platz für hygienisch korrekte Aktionen. Innerhalb der militärischen Entourage gibt es eine grob übertönte Frauenstimme (Christiane Oelze), die mit einfacher Uniform und dick geschminkten Augen davonkommt. Denn die anderen Popanze wackeln, tanzen und rollen wie monströse Ostereier durchs Geschehen. Die Herren Tänzer dagegen tragen schwere Stoffe im üppigen Tarn-Look, den auch Ihre Durchlaucht Großherzogin nicht verschmäht. Was man an Dekorationen sparte, wanderte in den Textiletat. Bei Klaus Bruns Kostümfest fliegen die Röcke und Melodien um die Wette. Das Tänzerquartett schwingt unter dick aufgetragenem Make-up die Bajonette und macht vergessen, dass es in diesem Stück diesmal keinen Chor gibt. Zurück also zu den Wurzeln von Offenbachs kleinen Besetzungen.
Barrie Kosky verzichtet auf Corona-Seufzer und wendet den für die Theaterkultur eingesetzten Begriff „Freizeitindustrie“ ins Visionäre: Gestochen klingt unter der Russin Alevtina Ioffe, welche selbst das feinste Piano mit ausladenden Gesten erkitzelt, die vom Orchester der Komischen Oper mit unüberbietbarer, dabei trockener Fachkompetenz durchtrippelte und gerappelte Offenbachiade. Mit bemerkenswert feinem Sprachgefühl rapportiert und skandiert das Ensemble die der Edition von Jean-Christophe Keck beigegebene deutsche Fassung von Stefan A. Troßbach. Das ist keine in Historismen schwelgende Aufführung. Man hört und sieht den Geschlechter-Drill von gestern, gerät allerdings manchmal in etwas zu große Entfernung vom emotionalen Menschenbild Offenbachs.
Sogar ein Hauch von Romantik
Triumph der Motorik: Sogar der biedermeierliche Wirbelwind Wanda, dem Alma Sadé die einzige sonnige Stimme des Abends gibt, ist eine bravourös tanzende Puppe. Man glaubt es sofort, was Kosky zu seiner nach „Die schöne Helena“ zweiten Offenbach-Inszenierung an der Komischen Oper („Orpheus in der Unterwelt“ kommt nach Premiere bei den Salzburger Festspielen wegen Corona erst 2021) ankündigt. Sie alle haben genügend Energiereserven, um über weitere eventuell am Corona-Horizont aufziehende Schließzeiten zu kommen: Die Soldatenmarionette Fritz (Ivan Turšić) und die sich zum fulminanten Verschwörungsterzett zusammenfindenden Brummkugeln Bumm (Jens Larsen), Puck ( Tijl Faveyts) und Prinz Paul (Christoph Späth). Bei aller Schärfe entsteht hier sogar etwas wie ein Hauch von Romantik, die auch zu Offenbachs Komödien gehört.
Trotzdem gibt es im Räderwerk disziplinierter Motorik gegen Ende nicht jenen Kick der Steigerung, wie er Kosky mit der „Schönen Helena“ im Getümmel von Leibern und Pailletten gelang. Aber im Gegenzug eine echt unerhörte Protagonistin, deren maßgeschneiderte Posen sich Tom Erik Lie und Philipp Meierhöfer teilen werden. Am Premierenabend raunte Lie irgend etwas wie: „Gud hvor dumme er menn“ („Gott, wie sind die Männer dumm.“). Erst nach der Schließzeit wird man erfahren können, ob die vom Norweger Lie in fremder Sprache geführten Dialoge bei Meierhöfer auf Wienerisch kommen. Wie schon bei der Besetzung der „Clivia“ mit Christoph Marti sieht man mittels Travestie genauer.
Die Diva Großherzogin leert zwei Gläser Champagner schon vor den berühmten Couplets über den „Degen von Papa“, der hier auf Dolchformat schrumpft und vor dem Gipfel der Erregungswelle schmählich bricht. Im Chanson von der Notwendigkeit rollender Köpfe rollt Tom Erik Lie die tiefen R’s wie Zarah Leander und hat Kurzschlafanfälle, wenn es um Leibesvisitationen am männlichen Militär gehen soll. Lies Großherzogin ist zart wie Sissi von Österreich, streng wie Elizabeth I. von England und von zäher Einmaligkeit. Aber sie ist auch gnädiger als eine Gottesanbeterin, weil sie ihre Männchen nicht verschlingt, sondern nur entsorgt. Im dritten Akt zeigt es sich: Die in nur vier Monaten geplante und durchgezogene Produktion der „Großherzogin von Gerolstein“ spielt mit Mechanismen der „Freizeitindustrie“. Illusion und Desillusion gehen ineinander auf. Der Applaus ist groß, die Begeisterung kühl. Theater kurz vor dem temporären Zapfenstreich also in Gleichzeitigkeit von Traumfabrik und Spiegel der Verhältnisse. Die Komische Oper hält einmal mehr, was sie verspricht.
Komische Oper Berlin
Die Großherzogin von Gerolstein.
Opéra-bouffe in drei Akten von Jacques Offenbach (1867).
Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Deutsche Neufassung von Stefan A. Troßbach.
Alevtina Ioffe (Musikalische Leitung), Barrie Kosky (Inszenierung), Klaus Bruns (Kostüme), Damian Czarnecki (Choreographie), Franck Evin (Licht), Tom Erik Lie/Philipp Meierhöfer (Großherzogin von Gerolstein), Ivan Turšić (Fritz), Alma Sadé (Wanda), Jens Larsen (General Bumm), Christoph Späth (Prinz Paul), Tijl Faveyts (Baron Puck), Christiane Oertel (Baron Grog)
Orchester der Komischen Oper Berlin
Ballett der Komischen Oper Berlin