Kein Geheimnis: Das Leichte(re) hat es heute im Musiktheater schwer – wie schon seit hundert Jahren. Trotzdem gibt es immer wieder ermutigende Versuche mit der totgesagten Gattung Operette. Einen ernstzunehmenden unternahm jetzt der Tenor und von Peter Michael Hamel ausgebildete Komponist Daniel Behle mit dem Schweizer Romancier Alain Claude Sulzer. Das Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz stemmte an einem erzgebirgischen Bilderbuch-Winterwochenende die Uraufführung der Operette „Hopfen und Malz“ – in Koproduktion mit dem Brandenburger Theater. Das Theater Neustrelitz zieht nach. Und Anfang 2024 setzt ein erstrangiges Tophaus für Operette und Musical die nächste Premiere an. Kurzkommentar zur Uraufführung in Annaberg-Buchholz: Erstversuch glänzend gelungen – mit minimalen Debütanten-Macken.
Brauzeit statt Brautzeit
Das von Sulzer mit raumgreifendem Wortwitz und vom Komponisten mit lyrisch-exaltierten Orchesterklängen angereicherte Opus ist ein Mix aus Regionalposse und Puzzlestücken der Favoritenliste des Sängers Behle. Kurz zum Inhalt: An der Holsteinischen Küste räumt der pfiffige Brauer Flens (László Varga) seit sechs Jahren beim regionalen Bierwettbewerb den Preis ab. Sein gemächlicher Konkurrent Max Fisch (Ivaylo Guberov) und dessen minimal hysterische Frau Letty aber haben das Nachsehen, bis ihnen der aus Bayern kommende Mönch Theophil ein uraltes Braugeheimnis, „gemacht vom Herrn“, anträgt. „Schlag sieben in der Wolfsbucht“ – nicht „-schlucht!“ – wird also gebraut.
Das zum Best-Resultat unerlässliche Wesen ohne Sünde findet sich in dem von der rechten Jakobsweg-Route abgekommenen Wanderer Klaus. Beim Bierwettbewerb haben Fisch und Letty jetzt natürlich Super-Chancen. Ihr magischer Gerstensaft löst die Zungen. Sorgsam verschlossene Lebensgeheimnisse drängen ans Licht. Klaus verliebt sich in Senta, die Tochter von Brauer Flens, und nimmt sie mit auf die Wanderschaft. Zum Schluss erscheint sogar die allegorische Mama Cervisia, mit welcher der Komponist seiner Mutter Renate Behle einen weiteren Star-Auftritt ihrer langen Karriere setzt. Cervisia mahnt zum Bierkonsum „mit Maß“, was die Konsumentenzielgruppe anders versteht als beabsichtigt… – Jubel nach der Premiere im trotz turmhohen Schneeeinbruchs vollen Zuschauerraum mit viel Theaterprominenz von weither!
Operetten-Vollgas gegen fragwürdige Splitterdefinitionen
Es wird sicher Kritik geben: Als Operette sei „Hopfen und Malz“ eine Mogelpackung, weil die Autoren aus ihrer Liebe zu umfangreichen Musikszenen, üppigen Klangzaubereien und Schliff kein Hehl machen. Ansichtssache: Denn Behle, der sich echte Emotion im Ausdruck durch atonale Musik schwer vorstellen kann, orientiert sich an der Berliner und Wiener Operette. Anders als viele im Business hat Behle nichts gegen substanzreiche Dialoge zwischen den Musiknummern. Wie schon beim späten Lehár und Künneke klingen Behles Harmonien à la Richard Strauss noch „straussiger“, süffiger, süßer. Diese Übertreibung gehört zur späten Operette seit 1918, nicht aber das Queerisieren um jeden Preis.
Ohne Bekehrungsdünkel präsentieren Behle und Sulzer – sympathische Ausnahme ist Klaus‘ Wandergefährte Ischias – eine heterosexuelle Majorität. Und das ist gut so, weil die Flirt- und Liebesszenen von Klaus und Senta fast noch schöner funkeln als „Rosenkavalier“ und „Arabella“. Immer lässt Behle in der Schwebe, wann er ironische Überfeinerung oder echtes Emotionstheater beabsichtigt. Auf den Boden holt das Sulzer, der Behles Handlungsanleihen bei „Freischütz“ und „Meistersinger“ sprachgewandt in operettiger Basiserdung lässt.
Höchst subtil und rauschhaft
Vor der Pause stimmt das Timing von „Hopfen und Malz“ rundum. Da wird kein Witz zu Tode repetiert, keine Musiknummer gestreckt wie zäher Strudelteig, kein Zitat und keine Reminiszenz überstrapaziert. Nach der Pause gibt es allerdings ein paar Längen, weil Behle & Sulzer so überaus akkurat und penibel sind. Das empfehlenswerte Eindimmen wird keine leichte Aufgabe, weil die immer substanzreichen Musiknummern mit ihren sirenenhaften Walzern, den ins Scherzo gewendeten Schubert-Zitaten aus der „Schöner Müllerin“ und Wagner-Weber-Verliebtheiten nie schlichte Refrain- und Strophenformen haben. Dafür ist alles höchst subtil und rauschhaft. Behle definiert, ähnlich wie Franz Hummel (gestorben 2022) in seinem ebenso unwiederholbaren „Ludwig II. – Sehnsucht nach dem Paradies“ mit Selbstbewusstsein ein äußerst eigenständiges Opus. Der Prozess, dass sich die Gattung Operette mit Wohlklang vom Dissonanten-Universum des sogenannten gehobenen Musiktheaters spaltet, läuft schon seit 110 Jahren und verschafft Melodiezündern wie Bernsteins „Candide“ volle Häuser. Das könnten auch Behle und Sulzer erleben.
Keine Hauruck-Komödiantik
Zumal Textstruktur und Musik der Regie nicht alles vorgeben und die szenische Kreativität eher ankurbeln, statt durch Pointen-Zugzwang in Fesseln schlagen. Jasmin Solfaghari nutzte dieses Potenzial von „Hopfen und Malz“. Sie nahm die acht sich allen früheren Operettenschablonen widersetzenden Hauptfiguren ernst und gab jeder Chorpartie einen eigenen Charakter (einstudiert von Daniele Pilato). Und Solfaghari besann sich auf kecke Mittel der Offenbachiade: Die vier trolligen Deichschafe mit Klappohren und Sonnenbrillen fühlen sich neben den Agaven im Nordseesand pudelwohl. Klimawandel herrscht in den Dünen und in den Herzen.
Jede Figur hat ihre Geschichte: der gewiefte Bierbrauer, der Angelfanatiker, die Wanderburschen und die ihren ausgesetzten Sohn wiederfindende Letty, aber auch der vom Piratenzögling in kirchlichen Dienst gehopste Theophil. Das kleine Mehrspartentheater im Erzgebirge und dessen seit Benatzkys „Der reichste Mann der Welt“ zu einer flotten Operetten- und Musicalreihe ansetzende Intendant Moritz Gogg boten alle verfügbaren Ressourcen für diese Uraufführung. Walter Schütze zeigte sich bei Bühne und Kostümen als Raummeister, der Atmosphäre, Kolorit und zweckdienlichen Realismus verbindet – vom Preisrichtertribunal bis zu Sentas Wurstbude und rosarotem Himmel.
Musik hat Vorrang
Eigentlich sind Behles Klangdimensionen für das Eduard-von-Winterstein-Theater einen Kick zu groß. Also mussten die Sängerstimmen über den orchestralen Wellen verstärkt werden. GMD Jens Georg Bachmann nahm‘s als Vorteil. Er lässt die prachtvoll in Behles Partitur eintauchende Erzgebirgische Philharmonie Aue schwelgen und schmelzen, als ginge es um Lehár oder Klangmagiere von 1900. Aus dem Ensemble ragten heraus Richard Glöckner als vokal wendiger Klaus mit schier unverschämt sympathischer Bühnenausstrahlung, die sopranstarke Madelaine Vogt als Senta, Maria Rüssel als schön leuchtende Letty und der aus dem Studium als Gast verpflichtete Jakob Nistler mit elegischen Tenortönen als Ischias.
Leander de Marel macht nicht nur die Braugeheimnis-Diskretion, sondern auch Theophils Piratenvergangenheit glaubhaft. Jason-Nandor Tomory überzeugt mehr mit dem weichen Kern als der harten Schale des Segelfreaks Bernd. Behle und Sulzer folgten nicht nur mit der Musik, sondern auch mit der Verortung in einer spezifischen Berufsszene früheren Operetten- und Singspielmustern. Dass sie mit der Charakterkomödie mehr liebäugeln als mit Kalauern und Polterposse ist Wohlfühl-Puder für ihr erstes gemeinsames Operetten-Baby. Elternzeit gibt es für sie allerdings nicht: Ihr zweites Geisteskind strampelt bereits im Kreativ-Brutkasten.
Eduard-von-Winterstein-Theater Annaberg-Buchholz
Behle: Hopfen und Malz
Jens Georg Bachmann (Leitung), Jasmin Solfaghari (Regie), Walter Schütze (Bühne & Kostüme), DanielePilato (Chor), Lür Jaenike (Dramaturgie), László Varga, Jason-Nandor Tomory, Maria Rüssel, Ivaylo Guberov, Madelaine Vogt, Richard Glöckner, Jakob Nistler, Leander de Marel, Renate Behle/ Bettina Grothkopf, Udo Prucha, Yuta Kimura, Jinsei Park, Lukáš Šimonov, Volker Tancke, Opernchor des Eduard-von-Winterstein-Theaters, Erzgebirgische Philharmonie Aue