Gerade bei russischen Opern wird Kritikern unsinniger Lesarten gern Folklorismus unterstellt, so als würde von ihnen Modernität grundsätzlich abgelehnt. Manchmal folgt daraus, dass nicht zu Ende gedachte Konzeptionen trotzdem bejubelt werden. Auch Dmitrij Tschernjakows Ausgrabung der Zarenbraut von Nikolai Rimski-Korsakow an der Berliner Staatsoper gehört zu den beklatschten Produktionen, die einen guten Gedanken haben, dem sich das Stück aber partout nicht unterordnen will.
Die Perfidie, mit der Zar Iwan der Schreckliche willkürlich aus dem Volk eine Braut erwählt, obwohl sie längst einem anderen versprochen ist, liest der russische Starregisseur als virtuelles Spiel von selbsternannten Mächtigen unklarer Herkunft. Die Zarengarde der Opritschniks wird als Medienmeute interpretiert, die sich in einem riesigen Fernsehstudio am eignen Zynismus aufgeilt. Tschernjakow will fragen, wer heute unser Schicksal so zu lenken imstande ist, dass das Leben in völlig andere Bahnen gerät. Was hätte sich daraus nicht alles ableiten lassen! Aber der pure Gedanke verläuft sich im Angedeuteten, spinnt sich nur dort fort, wo er verwertbar ist. In allen anderen Szenen steht das Stimmmaterial herum – wahlweise übt sich die Regie auch ganz klassisch in nur allzu werkrealer Personenführung. Fast als hätte Tschernjakow sich nicht recht entscheiden können zwischen Neuinterpretation und Konventionalität.
Dabei wird an fast allen Fronten exzellent gesungen. Zwar zieht Olga Peretyatko in der Titelpartie alle Aufmerksamkeit auf sich, wird aber von Anita Rachvelishvili als Nebenbuhlerin Dunjascha nicht nur stimmlich, sondern vor allem mimisch völlig an die Wand gespielt. Die Männerrollen nehmen sich dagegen fast blass aus, besonders Johannes Martin Kränzle als Ober-Opritschnik Grjasnoj aber legt wandlungsfähigen Ausdruck in seine Stimme. Gegen all dies ist der ob der kleinen und obendrein zugestellten Bühne zusätzlich minimierte Staatsopernchor machtlos: Hier scheppert es bei den Damen und dröhnt bei den Herren, dass die Studioscheinwerfer klingeln. Dramatisch, wie das Chorensemble derzeit bestallt ist, man könnte es auch drastischer formulieren: eines Hauses dieser Bedeutung unwürdig.
Seiner hervorragend aufgelegten Staatskapelle dagegen entlockt Daniel Barenboim eine Klarheit, die so verwegen unerhört klingt angesichts der Erwartungen an ein angebliches russisches Idiom. Kaum zu glauben, dass dieser äußerst kantable Rimski-Korsakow noch kurz zuvor Vorreiter des „Mächtigen Häufleins“ war. Barenboim straft den Meister selber Lügen, der sich alles Dramatische zugunsten des Lyrismus versagte – Rimskis Musik glüht mit einer belcantistischen Leidenschaft, die seine Märchenopern unter ihrem niedlichen Heidenkult verschütten. Es war höchste Zeit, diese Oper zum ersten Mal nach 1948 wieder auf eine Berliner Bühne zu holen. Man muss nur zuhören.
Staatsoper Berlin
Rimski-Korsakow: Die Zarenbraut
Ausführende: Daniel Barenboim (Leitung), Dmitri Tcherniakov (Regie, Bühnenbild), Anatoli Kotscherga, Olga Peretyatko, Johannes Martin Kränzle, Tobias Schnabel, Pavel Cernoch, Anita Rachvelishvili, Marina Prudenskaya, Stephan Rügamer, Anna Tomowa-Sintow, Anna Lapkovskaja, Jurgita Adamonyté, Carola Höhn
Termine: 25.10. & 01.11., 19:30 Uhr
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