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Opern-Kritik: Theater Magdeburg – Die tote Stadt

Marietta bleibt tot – aus der Traum!

(Magdeburg, 23.01.2016) Die Ko-Produktion Magdeburgs und der Niederlandse Reisopera macht Schluss mit „versöhnlich“

vonRoland H. Dippel,

In Hamburg, Hof, Regensburg, Chemnitz und Nürnberg kam Die tote Stadt in den letzten Spielzeiten heraus und begeisterte durchweg. Erich Wolfgang Korngold hatte erst Riesenerfolge nach der Doppeluraufführung am 4. Dezember 1920 in Hamburg und Köln, wurde dann von den Nationalsozialisten aussortiert.

Erst 23 Jahre alt war der Komponist, der mit seinem Vater – dem Kritiker Julius Korngold – unter dem Pseudonym Paul Schott das Textbuch zu Die tote Stadt schrieb und darin Brueges-la-morte, dem Kultroman des Décadent Georges Rodenbach, ein versöhnliches Ende aufsetzte: Korngold machte aus dem Mord Pauls an der seiner toten Frau Marie ähnelnden Balletttänzerin Marietta einen Tagtraum. In der Magdeburger- und Niederlandse-Reisopera-Produktion wird der Tod Mariettas wie bei Rodenbach „real“, mit einer überraschenden Begründung durch das Produktionsteam.

Lichtmagie und etwas Hitchcock

Vor einem großen Rahmen, der mit Voiles und Jalousien den Raum begrenzt und hinter dem am Ende schon die Seelenklempner auf Paul warten, befindet sich die „Kirche des Gewesenen“ – ein von Paul kultisch verehrter Vitrinenschrein mit Intimaccessoires der toten Marie. Dieser wird später zum Sarg und Podium des von Marietta inszenierten Erotiktableaus. Nur wenige Möbel stellt Guido Petzold auf die Fläche, die er später lichtflirrend umhüllen wird.

Egal ob in den schwarz-rot-weißen Kostümen von Sven Bindseil für echte Klosterbrüder und falsche Opernnonnen oder in der queeren Lusthölle von Bühnenvolk und Galanen: Konversation, Hassausbrüche, Selbstversenkungen und qualvolles Aufbäumen drängen sich. Nach ruhigem Beginn reißt Regisseur Jakob Peters-Messer das Geschehen aus der Konvention in eine verkehrte Welt, wo religiöse Tröstungsangebote hinter dem Dekor nur noch existenzielles Trauma sind. Aber auch das von Thomas Florio als seliger Schnulzenkompass ausgereizte Pierrot-Lied steht für Sehnsucht heraus aus dem Einerlei schal gewordener Geilheit.

Paul und sein Freund Frank sind angegraut, kurz vor dem Herbst des Lebens. Aus dieser Perspektive beinhaltet die Sinn- und Sehn-Sucht nach der jungen Marie, die Rivalität beider um Marietta noch mehr verzweifelt-vergebliches Aufbäumen. Roland Fernes als Frank ist noch in der Lustgier ganz rationaler Biedermann. Brigitta, die treu-bigotte Haushälterin wird durch Undine Dreißig zur Ikone des stillen Leids. Alfred Hitchcock und Daphne du Maurier blicken Jakob Peters-Messer über die Schulter, wenn Brigitta am Ende das Porträt der toten Marie sehnsuchtsvoll an sich drückt.

Paul findet nach seiner sexuellen Wiedererweckung durch Marietta den Schlüssel zum eigenen Kindheitsschock. In der Prozession durch das tote Brügge sieht er sich als Knabe im Kreis von brutal-lüsternen Klosterbrüdern, mit dem Wiedererinnern dieser Qual erwürgt er Marietta. Zu den liegenden Akkorden, auf die sie sich bei Korngold nach Pauls abendfüllendem Sekundentraum von diesem verabschiedet, bleibt sie hier leblos. Ihre letzten Sätze sind gestrichen. Und Paul findet nicht mehr zurück in die Realität der Anderen.

Klosterschüler und Nymphomanin

Wolfgang Schwaninger ist schon länger der Spezialist für die vertrackte Partie des Paul, sein intelligent geführter Tenor ein Ideal für dieses intensive Rollenporträt. Er hat die konditionierten Höhen, die Textdurchdringung und alle Charakterfarben für den schonungslosen, abendfüllenden Körper-Totaleinsatz. Von ihm wünscht man sich mehr solcher Herausforderungen.

Als Pfitzners Palestrina oder Alviano in Schrekers Die Gezeichneten wäre er derzeit der Mann. Den Triumph des Rollensouveräns erkämpfte er sich diesmal noch härter als sonst, ihm schenkte seine Partnerin Noa Danon nichts: Sie, die Vokalgranate und leibhaftige Männerphantasie! Langbeinig auf roten High Heels tanzt sie alle mit raumsprengender Erotik ins Delirium. Girrende Vollbluttöne und Parlando-Attacken treibt sie wie Pfeile in die Eingeweide ihres Opfers und Mörders. Durch sie wird die Partitur zur Spielwiese in einem Raubtierzoo.

Glanzvoller Überschwang: Orchester und GMD Kimbo Ishii

Das ermöglichte ihr – und den anderen Solisten – der besondere Zugriff des Magdeburger GMDs Kimbo Ishii. Er hielt sich mit gestaltenden, mäßigenden, limitierenden Akzenten zurück. Dafür ermutigte er sein Orchester zum genussvollen Bad in allen Reizungen von Korngolds  Instrumentationsexzess. Diese musikalische Enzyklopädie der Wiener Moderne blieb zwei Stunden in Druck und Feuer. Aura und künstlerisch hochprozentiger Krawall – der Abend hatte es in sich.

Theater Magdeburg

Korngold: Die tote Stadt

Kimbo Ishii (Leitung), Jakob Peters-Messer (Regie), Guido Petzold (Bühne & Licht), Sven Bindseil (Kostüme), Martin Wagner (Chöre), Wolfgang Schwaninger, Noa Danon, Roland Fenes, Undine Dreißig, Irma Mihelic, Jenny Stark, Eric Schubert, Manfred Wulfert, Thomas Florio, Markus Liske, Opernchor und Statisterie des Theaters Magdeburg, Opernkinderchor des Konservatoriums „Georg Philipp Telemann“, Magdeburgische Philharmonie

Weitere Termine des Theaters Magdeburg finden Sie hier.

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