Als „die Erzählung des eigenen Lebens“ bezeichnete Benjamin Britten selbst seine letzte Oper. Und es ist dieser, von Immo Karaman unaufdringlich, fast unsicht-, aber deutlich spürbar und vor allem konsequent ins Zentrum gerückte Interpretationsansatz, der seine Death in Venice– Inszenierung zu einem fesselnden Erlebnis macht, leidenschaftlich beglaubigt auch von der musikalischen Seite.
Kaspar Zwimpfer hat eine hochherrschaftliche Hotellobby auf die Bühne der Rheinoper gestellt, die vom Glanz vergangener Zeiten zu träumen scheint. Diesem großen Bild wird immer wieder ein kleines, hohes Separee gegenüber gestellt. Hier beginnt Aschenbach seine Reise nach Venedig. Hier stirbt er. Vielleicht ist er nur im Kopf gereist. Raymond Very charakterisiert ihn behutsam, fast sachlich, mit stets wortdeutlichem, nie exaltiertem Tenor. Auch seine Körpersprache bleibt absichtsvoll indifferent. Hier will sich einer nicht gehen lassen. Nicht einmal, als er, der Witwer und erfolgreiche Schriftsteller, dem bleichen Jungen Tadzio begegnet und sich nach und nach in eine einsame Liebe hineinsteigert.
Alles, die Unruhe des Wassers, die Hitze und Stickigkeit, die sinnliche Ausstrahlung mediterranen Lebens, die Ausbreitung der Cholera, wird in Karamans Inszenierung geradezu fließend funktionalisiert – als Hilfsmittel zur Entlarvung der Selbstentlarvung des Komponisten. Todesangst, brüchige Resignation, die Suche nach Sinn, Schönheit und Unschuld, die ersehnte und noch mehr befürchtete Erfüllung des unmöglichen Liebeswunsches werden plastisch in einer Abfolge intimer Momente und großer Bilder, in denen Traum und Realität immer wieder verschwimmen.
Obwohl alles an der Oberfläche so klar scheint: die rationellen, eminent stimmigen Chortableaus von Fabian Posca; Aschenbachs Gegenspieler, der in etlichen Rollen auftretende „Reisende“ als seine dunkle Seite – ein hagerer, rothaariger Dämon, von Peter Savidge mit stimmlich wie darstellerisch erstaunlicher Bandbreite verkörpert; nicht einmal die von Britten und seiner Librettistin Myfanwy Piper hinzugefügten, in Thomas Manns Erzählung nicht vorhandenen visionären Auftritte der Götter Apollon und Dionysos irritieren hier. Sie transportieren lediglich Aschenbachs unlösbaren inneren Konflikt auf eine andere Ebene. So bleibt die Inszenierung nah bei Britten. Es wird vordringlich Verstörung artikuliert, es geht kaum darum, welche auszulösen.
Einziger Fremdkörper sind die ebenfalls von Fabian Posca choreographierten, oft recht klassisch gehaltenen Tanzszenen für Tadzio und seine Familie. Die sind zwar von Britten in ähnlicher Form vorgesehen, passen aber kaum zur Ästhetik der Aufführung, zu ihrem Gestus suggestiver Dezenz. Da ist zu viel künstlerische Ver- und Überformung, zu wenig Sinnlichkeit. Obwohl vorzüglich getanzt wird.
Eine Sensation sind die Düsseldorfer Symphoniker unter Lukas Beikircher. Der erste Kapellmeister des Hauses sucht die Schroffheiten und Härten dieser unendlich vielfarbigen Musik, vermeidet jede Süßlichkeit, gestattet der unendlich vielfarbigen Musik keinerlei Mitleidshaltung. Manchmal ist es geradezu unangenehm zuzuhören, dann frappiert wieder die scheinbar nur im Hintergrund pulsierende, unerbittliche Dramatik der Komposition, faszinieren die exotischen Klangeffekte. Der Chor, aus dem viele kleine Rollen deckend besetzt sind, und das Ensemble der Rheinoper, angeführt von Torben Jürgens als Reisebüro-Angestelltem mit bildschönem Bass und Alma Sade als Erdbeerverkäuferin, agieren gleichfalls auf sehr hohem Niveau. Endlich mal wieder ein Grund, nach Düsseldorf zu fahren!
Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf
Britten: Death in Venice
Ausführende: Lukas Beikircher (Leitung), Immo Karaman (Inszenierung), Kaspar Zwimpfer (Bühne), Nicola Reichert (Kostüme), Fabian Posca (Choreographie), Raymond Very, Peter Savidge, Yosemeh Adjei, Florian Simson, Attila Fodre, Torben Jürgens, Alma Sade, Cornel Frey, Denys Popovich, Talib Jordan u.a.
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