Die Sehnsucht nach Webbers „Evita“ ist ungebrochen. So erstaunt es nicht, dass die vergötterte First Lady Argentiniens immer wieder auf den Bühnenbrettern landet – als nächstes am Mainfranken Theater Würzburg und am Theater Nordhausen, dessen Position als Harzer Musical-Hochburg die Operndirektorin Anette Leistenschneider mit Nachdruck stabilisiert. Im Herbst zeichnen sich Trends und Tendenzen der Szene regelmäßig deutlicher ab als in der sommerlichen Festspielsaison, weil viele Theater mit Neuproduktionen von Musicals an ihr Festtagspublikum zwischen den Jahren denken. Dabei zählt man Charakterkomödien wie „My Fair Lady“ oder Frank Loessers Broadway-Legende „Guys and Dolls“ heute fast schon zur Operette. Beide Gattungen sind an den Mehrspartentheatern des deutschen Sprachraums durch Produktionsform und Spielbetrieb eng verflochten.
Das Musical-Angebot ist vielfältiger und experimentierfreudiger als noch vor einigen Jahren. Die Kunstform Musical profitiert enorm von der Unsicherheit der Theater, ob sie in Operetten lieber nostalgische Klischees oder genderkorrekte Frechheiten kultivieren sollen. Auch beim Musical zeichnet sich ein Generationen- und Paradigmenwechsel ab. So hat, wie Produktionen in Altenburg-Gera, Plauen-Zwickau und im Studio des Theaters Erfurt bestätigen, das Scheidungsdramolett „The Last Five Years“ von Jason Robert Brown die früher allgegenwärtigen Ehekomödie „I Do! I Do! (Das musikalische Himmelbett)“ inzwischen weitgehend abgelöst. Sujets und dramatische Kraftfelder des Musicals werden schärfer und stärker. Auch ein neuer opernnaher Dauerbrenner kündigt sich an, wenn „Doktor Schiwago“ mit der Musik der Amerikanerin Lucy Simon nach der ausverkauften Serie in der Musikalischen Komödie Leipzig im November im Theater Lüneburg herauskommt. Die Spitzenposition von Webbers „Jesus Christ Superstar“, mit dem die Oper Wuppertal ihr Publikum beschert, bleibt trotzdem unangefochten.
Macbeth wird nicht benötigt: Musicals feiern Hochkonjunktur
Früher galt er als speziell, aber heute hat Stephan Sondheim den Gout des Besonderen wie sein Landsmann Philip Glass für die Oper: Das Musical braucht keinen Mörder wie Macbeth, solange es Mrs. Lovetts und Sweeney Todds Fleischpasteten gibt. Sondheim-Fans sollten sich „Sunday In The Park With George“ in der neuen deutschen Übersetzung von Robin Kulisch an den Landesbühnen Sachsen ebenso wenig entgehen lassen wie „Follies – Glanz und Schatten der Revue“. Dort inszeniert Martin G. Berger, einer der Shooting-Stars des jungen intelligenten Musiktheaters durch seine gewitzte Liebe für verspielte Genres.
Stabil bleibt die Hochkonjunktur des historischen Musicals mit Lokalkolorit. So erlebt Franz Hummels und Susan Oswells „Ludwig II. – Sehnsucht nach dem Paradies“ ein Comeback. Erstmals nach der Uraufführung im Festspielhaus Füssen begegnet man im Theater Regensburg dem bayerischen Märchenkönig wieder mit Cannabis und anderen Pikanterien.