Abend für Abend stehen Weltstars auf der Bühne. Der Reigen seliger Sänger reicht von Alberto Alagna über Plácido Domingo, Jonas Kaufmann und Anna Netrebko bis zu Kristine Opolais und Waltraud Meier. Am Pult sorgt seit 1974 James Levine als Music Director für Exzellenz – immer seltener freilich, die Parkinson-Erkrankung des Maestro ist zum Unsicherheitsfaktor geworden. Wenn er dann doch eine Probe oder Vorstellung vom Rollstuhl aus leitet, steigt das kollektive Adrenalin im Haus – und die Qualität explodiert fühlbar. Fabio Luisi, der vielbeschäftigte Pendler zwischen Zürich, New York und bald auch Florenz, hält den Standard als Principal Conductor hoch.
Das Orchester der Met ist – durchaus unabhängig davon, wer gerade dirigiert – mehr als eine sichere Bank: Nicht nur seine Opulenz bei Wagner und Strauss, gerade auch die stilsichere Eleganz im italienischen Belcanto ist ein Ereignis. Die Opern Donizettis bilden gar den erstaunlichen Schwerpunkt der Saison. Und man ist beglückt, wie plastisch das 3900 Plätze fassende Riesentheater in der Upper West Side dabei die feinen Fäden des Pianissimo transportiert: Kein Sänger muss forcieren – man kann sich zurücklehnen und genießen.
Weltweite Kinoübertragungen bringen neue Einnahmen
Ist also alles eitel Sonnenschein an der Met? Mitnichten. Die vergangenen Jahre waren bedrohlich. Noch 2014 stellte Intendant Peter Gelb die Existenz der legendären Kulturinstitution in Frage. Während die Kosten stiegen, stagnierten die Zuschauerzahlen, höhere Ticketpreise erwiesen sich eher als kontraproduktiv. Die Kosten für die besten wie bestbezahlten Künstler der Welt mussten runter. Ein harter Kampf mit den in den USA traditionell starken Gewerkschaften begann. Ende 2014 stand nicht nur ein Fehlbetrag von 22 Millionen Dollar in den Büchern, sondern traten auch neue Tarifverträge in Kraft, die Gehaltskürzungen als Kompromiss vorsahen: Ein Chorsänger an der Met hatte bis dato stolze 200 000 Dollar pro Jahr verdient – viermal so viel wie seine Kollegen in Deutschland! Folgerichtig stimmte die Bilanz dann 2015 schon wieder, mit einem Plus von einer Million Dollar schrieb man knapp schwarze Zahlen.
Als eine Erfolgsmaßnahme zur Einnahmesteigerung erweisen sich die internationalen Kinoübertragungen der traditionellen Nachmittags-Vorstellungen am Samstag – in attraktiver HD-Qualität per Satellit zu sehen. Während in der vergangenen Saison vor Ort im Lincoln Center 660 575 Melomanen ihren Sängerlieblingen lauschten, waren es gar 2,6 Millionen Menschen, die weltweit zusätzlich und live dieselben Vorstellungen im Kino verfolgten. Die Schattenseite der Medaille ist, dass bei 900 000 verfügbaren Karten pro Saison im Saal der Met zuletzt nur schlappe 74 Prozent verkauft wurden: Das Potenzial, ein neues, auch jüngeres Publikum zum Besuch zu bewegen, bleibt eine Herausforderung der Marketingabteilung der Met. Neue Niedrigschwelligkeit versprechen am Vorstellungstag verkaufte Last-Minute-Tickets, die nur 25 Dollar kosten – im Gegensatz zu Preisen bei Parkettplätzen, die oft über 300 Dollar liegen. Gut möglich indes, dass die preisgünstigen Übertragungen in New Yorker Kinos den Verkauf teurer Theatertickets an heimische Fans schmälern – auch wenn die Mitarbeiter diese Vermutung bislang nur hinter vorgehaltener Hand äußern.
Doch wo steht der Dinosaurier der Oper künstlerisch – im zehnten Jahr nach Antritt des Hoffnungsträgers Peter Gelb, der für Aufbruch nach Jahrzehnten des reinen lukullischen Sängertheaters stand: Herrscht szenisch weiterhin luxuriöse Langeweile? Oder hat das Haus den ästhetischen Anschluss an die wenigen Benchmarks in Europa geschafft, die in München, Mailand oder Wien stehen?
Europäische Schlamperei und amerikanische Traditionspflege
Noch immer findet sich manch angestaubte und mitunter dennoch ansehnliche Produktion von Otto Schenk und Franco Zeffirelli im Repertoire. Das kommt auch in München oder Mailand mal vor – der Unterschied zwischen europäischer Schlamperei und amerikanischer Traditionspflege ist nur: In New York finden für Wiederaufnahmen selbst uralter Inszenierungen immer wieder sehr seriös Bühnen-Orchester-Proben statt, denen sich auch ein durchreisender Domingo nicht entziehen kann. Die Folge ist eine musikalische Qualitätssicherung auf Spitzenniveau in wirklich jeder der 227 Vorstellungen der laufenden Spielzeit.
Die Neuproduktionen haben ein Spannungsfeld auszupendeln, ersetzen doch private Förderer an amerikanischen Kulturtempeln komplett die in Deutschland üblichen öffentlichen Subventionen. So schwanken die Inszenierungen zwischen sanftem Fortschritt und Mottenkiste – gemessen daran, dass die Hälfte des leicht gesunkenen, doch weiterhin stolzen Jahresbudgets von 297 Millionen Dollar durch Fundraising akquiriert werden muss und mutmaßlich konservative Förderer am Ende der Saison gern glücklich sein sollen. David McVivar etwa, der als Regisseur den aktuellen Donizetti-Zyklus der Tudor-Tragödien an der Met verantwortet, gibt sich im Königinnendrama Roberto Devereux eine Spur zahmer als in der Alten Welt. Stimmungsstark ist sein eigenes Bühnenbild, das einen Hofstaat im historischen Ambiente zeigt.
Die lauernden Blicke der allgegenwärtigen Hofschranzen geben den kleinen privaten Glückshoffnungen der alternden Königin Elisabeth keine Chance: Leichenblass geschminkt und am Stock humpelnd zeichnet Sondra Radvanovsky diese späte Queen mit Mut zur Hässlichkeit und auch vokal mit nie nur schöner, durchaus sopranscharfer Intensität. Durch edles Mezzo-Ebenholz betört dafür Elīna Garanča als Gegenspielerin Sarah; Matthew Polenzani, der feine Tenorstilist, schenkt dem doppelten Liebhaber der Titelpartie sein verletzlich anrührendes Mezza voce.
Auf in die Jubiläumssaison!
Mit deutlich mehr Herz-Schmerz-Schmelz singt anderntags sein Kollege Vittorio Grigolo einen idealen, stimmlich überströmenden Nemorino in Donizettis L’Elisir d’Amore – in der schlichten Inszenierung eines Bilderbuch-Italiens durch Bartlett Sher. Für wahre sängerdarstellerische Weltklasse sorgt indes Kristine Opolais als Madama Butterfly in der Puccini-Produktion von Anthony Minghella. Ohne Japan-Kitsch, dafür mit imaginativer Reduktion gelingt hier der Spagat: Oper ist und bleibt Genusskultur mit köstlicher Sängerkulinarik und wird gleichwohl zu packendem Musiktheater. Die auch programmatisch durchweg spannende Jubiläums-Saison zum 50. Geburtstag der im Lincoln Center residierenden Met kann kommen. Nina Stemme wird die Spielzeit im September als die größte Isolde der Gegenwart eröffnen.