Wieder keine Uraufführung zu Beginn der Ruhrtriennale. Wieder ein noch junger, aber bereits vom Vergessen bedrohter, ungewöhnlicher Musiktheaterentwurf. Nach John Cages Europeras und Harry Partchs Delusion of the Fury inszenierte Heiner Goebbels nun, im letzten Jahr seiner Intendanz, Louis Andriessens De Materie, 1989 ur- und seitdem nicht mehr aufgeführt. Um den Geist geht es und ums Materielle, als Diskurs in vier unabhängigen Teilen, gedacht als Antithese zum berühmtem Diktum des Karl Marx „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Es werden Quellen aus dem 17. Jahrhundert, dem „Goldenen Zeitalter“ der Niederlande, verwendet, über Schiffbau und prähistorische Atomphysik. Es folgt die mittelalterliche, plastisch erotische Gottesvision einer Nonne – auf Mittelniederländisch! -, die Beschäftigung mit der abstrakten Kunstauffassung Piet Mondrians und schließlich Liebespoesie in Sonettform aus dem späten 19. Jahrhundert kombiniert mit Texten von Marie Curie, sowohl über den Tod ihres Mannes als auch über ihre Arbeit.
Diese lose, einzig durch die Ideen „Kunst“ und „Wissenschaft“ und den Gegenstand verbundene Dramaturgie passt vorzüglich zu Heiner Goebbels Ideal eines „Theaters der Abwesenheit“. Offen soll das Kunstwerk sein, aber nicht beliebig, keine Identifikationsfiguren samt übergroßen Gefühlen kreieren, sondern Räume, in denen der Zuschauer Wahrnehmungen und Erfahrungen machen kann. Goebbels und sein Bühnen- und Lichtgestalter Klaus Grünberg bestücken die scheinbar unendlich tiefe Duisburger Kraftzentrale nur mit wenigen raffinierten Objekten, konturieren den Riesenraum vor allem durch die Projektion der deutschen Textübersetzungen auf alle möglichen und unmöglichen Stellen.
Echt postmoderne Musik perfekt aufgeführt
Da wird der Auftritt zweier Boogie-Woogie-Tänzer von hinten in den leeren Raum, klein wie Däumlinge, zum Ereignis. Sie tanzen miteinander und geraten in eine nichtausagierte Bildbeziehung zu drei schräg freischwingend aufgehängten, ständig die Farbe wechselnden, auf Mondrians Malerei anspielenden Pendeln. Dominierendes Dingsymbol des Abends ist ein immer wieder durch die Luft segelnder, von innen leuchtender Kunststoffzeppelin (stilisierter Mond? Jenes höhere Wesen, das wir verehren? Metapher für Kraft durch Denken, für Fortschritt?). In der letzten Szene regiert er gar 100 lebendige Schafe. Die lassen sich von dem gemächlich kreisenden Kunstobjekt beieinander halten wie von Schäfer und Hütehund, wirken als Herde wie ein kohärentes Molekül und einzeln betrachtet, so ganz aus dem bekannten Zusammenhang gerissen, einfach sehr schön.
Andriessens bläserdominierte, echt postmoderne, sozusagen harmonisch durchbrochene Musik macht den Raum erlebbar – und dieser die Musik. Die wird zudem vom Ensemble Modern unter Peter Rundel und den vorzüglichen Solisten perfekt aufgeführt. Es soll nicht verschwiegen werden, dass sich hier und da auch mal ein kleines Gefühl der eleganten Leere einstellt, was bei derart gearbeitetem Theater vielleicht sogar unvermeidlich ist, aber dafür gibt es auch den wirklich besonderen Theatermoment. Da sitzt die von Evgeniya Sotnikova bestrickend gesungene Nonne lange in einem von gestaltlosen Statisten spärlich bevölkerten Kirchenraum und singt von Gott und, sehr konkret, von der Liebe. Irgendwann kommt die Musik ins Stocken, scheint sich selbst zu zerhäckseln, hört kurz auf. Und plötzlich scheint sich die Nonne verdoppelt zu haben, in eine kleine, durchgeistigte, weiße Erscheinung ganz vorne und einen riesigen, vor Wollust zitternden Schatten ganz hinten. Wow!
Kraftzentrale Duisburg
Andriessen: De Materie
Ausführende: Peter Rundel (Leitung), Heiner Goebbels (Inszenierung), Klaus Grünberg (Bühne und Licht), Florence von Gerkan (Kostüme), Florian Bilbao (Choreographie), Robin Tritschler, Evgeniya Sotnikova, Catherine Milliken (Solisten), Ensemble Modern, Chorwerk Ruhr