Die Oper Frankfurt widmete diese Produktion dem am 8. März verstorbenen Michael Gielen, ihrem Generalmusikdirektor 1977 bis 1987. Dieser hatte dort mit „Die Gezeichneten“ (1979) und mit „Der ferne Klang“ an der Deutschen Staatsoper Berlin (2002) entscheidende Stationen zur Renaissance des lange Zeit vergessenen Frank Schreker geleitet. Dessen Frankfurter Uraufführungen von „Der ferne Klang“ (1912), „Das Spielwerk und die Prinzessin“ (1913), „Die Gezeichneten“ (1918) und „Der Schatzgräber“ (1920) wirkten durch erotisch aufgeladene Sujets und deren musikalisch deutliche Ausgestaltung damals atemberaubend. Heute ist Schreker als einer der wichtigsten Konkurrenten von Richard Strauss glanzvoll rehabilitiert. Nach der Premiere brach ein Jubelsturm von seltener, lauter Einmütigkeit los.
In memoriam Michael Gielen
Dabei lässt sich für Lesarten von „Der ferne Klang“ kaum ein größerer Kontrast denken als Sebastian Weigles in wohligen Tonfluten badender Ansatz und jener Michael Gielens, der an der Lindenoper die Konstruktion von Schrekers komponierten Architekturen deutlich kenntlich gemacht hatte. Gielen ging es um Schrekers Dynamit, Weigle und mit ihm der italienische Regisseur Damiano Michieletto brachten dagegen die Zeit durch Wohlklang zum Stillstand. Nicht mehr das Sich-Verfehlen des sich prostituierenden Kleinbürgermädchens Grete Graumann und des in ihren Armen verpasste Lebenschancen erkennenden Komponisten Fritz geht es in erster Linie. Steffi Sehling und Martin Georgi werden als deren stark gealterte Doubles zu stummen Hauptfiguren. Immer wieder erscheinen sie im Pflegeheim und kommen am Ende doch noch zusammen wie zwei Königskinder, weil das Wasser endlich nicht mehr so tief ist. Indes hängt der Bühnenhimmel voller Geigen und mit dem Instrumentarium einer kompletten Sinfonieorchester-Besetzung – inklusive Harfe, die Fritz‘ durchfallender Oper den Titel gibt.
Schwieriges einfach erzählt
Sicher und schnörkellos erzählt Michieletto Schrekers Textbuch, das auch heute mit seiner Mischung aus naturalistischen, symbolistischen und neuromantischen Bausteinen staunen macht: Zunächst das Schicksal Gretes, die sich vom aus Trunksucht hochverschuldeten Vater nicht an den Gastwirt verschachern lässt, zum Star eines Edelbordells auf einer Insel vor Venedig wird und in den Straßenstrich absinkt. Sie ist die dramatische und vor allem musikalische Hauptperson – nicht der nach dem Misserfolg seiner Oper „Die Harfe“ und erst im letzten Bild vor seinem Tod zum Protagonisten aufragende Fritz. Dabei verhindert er beider Lebensglück, weil er nur als Künstler nach Freiheit strebt und im echten Leben von konventionellen Moralbegriffen nicht loskommt.
Die Jungen leiden an ihrer kraftvollen Sinnlichkeit, die Alten an deren Verlust
Aber weder Michieletto noch seinem die fashionablen Abend- und Glitzerroben von Klaus Bruns mit vielen Schleiern und Gazeschleiern umhüllenden Bühnenbildner Paolo Fantin geht es um die im Zeitfluss stimmige, damit realistische Darstellung von Schrekers Sujet. Das sieht man, wenn die alte Grete während des aufpeitschenden Schlagers über die verführerischen Blumenmädchen von Sorrent scheu den vom Arzt ruhiggestellten alten Fritz sucht oder dieser im Krankenbett immer wieder nach der Partitur seiner Oper greift. Auch ohne die dokumentarisch scharfen Videos von rocafilm, die das diffuse Rauschen und Schimmern von Schrekers Musik brechen, wäre es deutlich geworden: Die Jungen leiden an ihrer kraftvollen Sinnlichkeit, am erotischen Schaffensdrang und den Verletzungen durch überbordende Lebensenergie. Die Alten jedoch leiden darunter, dass sie diese Energie nicht mehr haben. In der Oper vergehen zwischen Anfang und Ende fünfzehn Jahre – in dieser Inszenierung verdoppelt sich der zeitliche Abstand, mindestens.
Es gibt keine Erlösung von Sehnsucht
Die gesprochenen und rezitativischen Szenen von Gretes Eltern und des von Dietrich Volle äußerst eindrucksvoll gespielten Dr. Vigilius, der am Ende seine zwielichtige Rolle beim Grete zur Flucht bewegende Schacher von Herzen bereut, werden keineswegs in der möglichen Schärfe ausmusiziert. Zwischen der meist weich fließenden Optik der Szenen, in der selbst Gretas Verzweiflungsattacken mehr opulent als kantig geraten, und dem sich der Fülle des Stimmensatzes mit fein abgestuften Wohlbehagen widmenden Opern- und Museumsorchesters gibt es trotzdem weitaus mehr Divergenzen, als man denken könnte. Nicht nur, weil am Ende Grete und Fritz in ihrer einzigen wirklich innigen Umarmung und nach Gretes nur noch kraftlosem Kuss gegen die Musik ein Bild menschlicher Hinfälligkeit bieten. Da endet der Einfluss von Wagners „Tristan“ und beginnt bei Schreker die Moderne: Es gibt keine Erlösung von Sehnsucht. Immer sind die Figuren auf der Bühne den Klängen, ja sogar der Idee von Musik weit hinterher.
Dem fernen Klang hinterher
Nur in der „Casa delle maschere“, in Schrekers Versen eine genau aufgespaltene Mixtur aus Gier, Überdruss und Langeweile der Huren und Freier, sind die Figuren ganz bei sich – und in dem minutenlangen Exzess aus italienischem Kanzonen-Schmäh, Operettenschablone und raffinierten polytonalen Flächen doch nicht minder orientierungslos. Dank Gordon Bintner, Theo Lobow und den vielen eindrucksvoll aus dem Chor besetzten kleinen Rollen hört man rundweg gesunde, vitale Stimmen. Dagegen bedenkt das starke Ensemble der Oper Frankfurt die Partien der schon längst vom Elend zerfressenen kleinen Leute mit weichzeichnender Fahlheit. Gerade die Sänger der beiden Hauptfiguren und Nadine Secunde als keineswegs dämonische Salondame, die Grete mit einem Paar dunkelroter Lackschuhe in die ihr neue Welt lockt, agieren nicht besonders textdeutlich.
Aber die Stimmen verraten alles: Es gab sicher strahlendere Europa-Debüts als das des amerikanischen Tenors Ian Koziara. Dieser modelliert Fritz‘ innere Unfreiheit mit immer engerer Stimme. Da schafft es einer nicht heraus aus seiner Haut, steht sich zu seinem Inneren im Weg und bleibt erlösungsbedürftig. Dazu lockt Schrekers Musik wie eine Fata Morgana. Ganz das Gegenteil Jennifer Holloway: Ihr runder Sopran charakterisiert Grete als eine sich genau bewusste Frau. Ihr großes Wald-Solo und das als Positionsbestimmung statt Klagegesang genommene Selbstgespräch im Venedig-Akt werden zu Höhepunkten. Denn die Sängerin geht nicht auf Schrekers Verführungen zur Darstellung einer Femme fatale ein. Sie holt kantable Inseln in greifbare Nähe und kostet diese ohne Konditionsverluste aus. So wird im Zentrum der Frankfurter Premiere nochmals klar, dass der ferne Klang aus Harfen-Glissandi nichts anderes ist als ein in tönendes Sekundenmaß gegossenes Missverständnis zweier Seelen. Voller betörender und hier nur wenig verstörender Schönheit.
Oper Frankfurt
Schreker: Der ferne Klang
Sebastian Weigle (Leitung), Damiano Michieletto (Regie), Paolo Fantin (Bühne), Klaus Bruns (Kostüme), Tilman Michael (Chor), Jennifer Holloway (Grete Graumann), Ian Koziara (Fritz), Anthony RobinSchneider (Wirt des Gasthauses „Zum Schwan“), Iurii Samoilov (Ein Schmierenschauspieler), Magnús Baldvinsson (Der alte Graumann / 2. Chorist), Barbara Zechmeister (Seine Frau), Dietrich Volle (Dr. Vigelius), Nadine Secunde (Ein altes Weib), Gordon Bintner (Der Graf), Iain MacNeil (Der Baron), Theo Lebow (Der Chevalier / 1. Chorist), Sebastian Geyer (Rudolf), Hans-Jürgen Lazar (Ein zweifelhaftes Individuum), Bianca Andrew (Milli / Die Kellnerin), Anatolii Suprun (Ein Polizeimann / Ein Diener), Steffie Sehling (Alte Grete), Martin Georgi (Alter Fritz), Chor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester