„Wo sind wir hier eigentlich?“, fragt Baronin von Gondremark am Ende dieser großen Sause. Bereits zum dritten Mal werden die dänische Kleinadlige und ihr Gatte auf ihrem Paris-Trip an der Nase herumgeführt. Denn die Parties, Diners und Soireen, zu denen die beiden Edeltouristen in die vorgebliche High Society der feierfreudigen französischen Metropole eingeführt werden, sind nichts als Lug und Trug. Das Freundespaar Bobinet und Gardefeu steckt einfach Vertreter der niederen Gesellschaftsschicht in die Klamotten der Aristokratie, gaukelt dem nordischen Ehepaar vor, in einer Dépendance des Grand Hotels zu logieren und will es nach Kräften um dessen Barmittel bringen. Obendrein haben die Lebemänner beschlossen, ihr erotisches Beuteschema zu ändern. Ihre Konkurrenz um die Edelhure Métella soll der Vergangenheit angehören. Damen der feinen Gesellschaft sind einfach die lohnenderen Ziele ihrer Begierden: Da spart Mann einfach Geld.
Sanguinisch, sportlich physisch und fantastisch farbenfroh
Der Baronin zweifelnde Frage nach dem Ort des munteren Geschehens beantwortet Stephan Prattes als Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion. Die ganze Offenbachsche Operetten-Personnage befindet sich bei ihm nicht wirklich in Paris. Überhaupt ist es gar kein realistischer Raum, den der Wiener mit Wohnsitz in Berlin da definiert. Erfunden hat er für seine Inszenierung am Theater Kiel einen dezidiert nicht-naturalistischen Kunst-Raum, der Sängern wie Tänzerinnen zum Spiel-Raum wird. Sanguinisch, sportlich physisch und fantastisch farbenfroh spult sich darin das flinke Geschehen ab. Der Berliner Illustrator und Zeichner Andree Volkmann hat die Kieler Kostümwerkstätten dazu nicht nur herausgefordert, er hat ihnen ein Maximum an Kreativitätsentfaltung abgetrotzt – und sie haben geliefert: Allein der Kostümrausch ist eine Reise an die Förde wert. Die lustvolle Überzeichnung der Figuren, die haarscharf an der Karikatur vorbeischrammt, gibt ihnen die exakte Kontur eines Komödientheaters, das ausdrücklich artifiziell, im besten Sinne verrückt sein will.
Der Ursprung der Welt
Das fragende „Wo sind wir hier eigentlich?“ der Baronin, das auch das Publikum im Kopf zu haben scheint, welches – für Kiel durchaus unüblich – am Ende in Teilen dem Regieteam seine Buhs entgegenbrüllt, wird freilich gleich zu Beginn des Abends geklärt. Wir blicken da nämlich gleich auf jene füllige Vulva, die Gustave Courbet in „Der Ursprung der Welt“ als sexuell eindeutigen Anfang des Lebens schuf – passenderweise exakt zur Entstehungszeit von Offenbachs „Pariser Leben“ anno 1866. Das skandalumwitterte Gemälde befindet sich heute im Pariser Musée d’Orsay, dessen Gebäude wiederum einst als Bahnhof diente. Mit der Ankunft des dänischen Aristokratenpaars per Zug beginnt das Stück im Original. In Kiel nun steigt die Inszenierung im Setting einer Ausstellungseröffnung in das bunte Treiben ein: Und die Mitglieder des Chores purzeln geradewegs aus Courbets pornographisch eindeutigem Loblied der Weiblichkeit heraus in die sich nun entfaltende pralle Feier des Lebens. Baronin und Baron aus Dänemark aber schweben in diese Kunst-Installation per UFO ein, das in seiner Karton-Ästhetik und den Bemalungen per Hand von naiver Direktheit zeugt. Überhaupt scheinen die Spielmacher des Abends, Bobinet und Gardefeu, geradewegs dem Zirkus entsprungen, clownesk sind ihre Kostüme wie die orange, respektive türkis angemalten Nasen.
Schein und Sein
So entfaltet sich dann das atemlose Spiel, in dem der falsche Schein das wahre Sein so eindeutig dominiert. Immer wieder drohen die beiden Freunde mit ihrem Spiel aufzufliegen, etwa, als der Baron aus Dänemark die vorgeblichen Diplomaten und Generäle der Superlative in politischen Smalltalk verwickeln will und sie um ihre Meinung zur „skandinavischen Frage“ bittet. Von derlei Diskursen verstehen die Kostümierten natürlich bestenfalls Bahnhof. Doch der Genuss des für sie eigens erfundenen Theaters, in dem ihre eigenen Paris-Projektionen ja letztlich nur in kunstvoller Übertreibung inszeniert und ihnen vor Augen geführt werden, ist den nordischen Gästen wichtiger als dessen Entlarvung. Offenbachs Cancan reißt auch sie mit. Warum sollten sie sich da selbst den großen Spaß verderben? An den glaubt ja auch das Regieteam, das seinen Offenbach bei allen Übertreibungen ins Absurde ja letztlich doch bedient. Dazu trägt auch die leicht aktualisierende deutsche Textfassung der Dramaturgen Eva Bunzel und Ulrich Frey bei, die nur in den bemühten Einsprengseln deutscher Dialekte (von Berlinerisch bis Hessisch) nicht die nötige Prägnanz entfaltet.
Maestro Sergi Roca Bru spornt das Philharmonische Orchester Kiel freilich zu einem durchweg quirligen Tanz auf dem Vulkan an. Wenn dem Abend – bei allem genau gearbeiteten Komödienhandwerk, das in seiner Körperlichkeit an die entsprechenden Regiearbeiten von Herbert Fritsch erinnert – dennoch das letzte Quäntchen an überdrehtem Timing fehlt, mag sich letzteres in den vielen Folgevorstellungen noch einstellen. Manchmal wünschte man sich, dass das Komische auch einmal in tragische Momente umkippen könnte. Dazu sind bei der Premiere weniger die schönstimmigen jungen Ensemblemitglieder in der Lage als die beiden altgedienten Kieler Kammersänger als dänische Baronin und Baron. Heike Wittlieb und Jörg Sabrowski liefern die Fallhöhe ihrer Figuren da einfach durch ihre große sängerdarstellerische Erfahrung mit.
Theater Kiel
Offenbach: Pariser Leben
Sergi Roca Bru (Leitung), Stephan Prattes (Regie & Bühnenbild), Amy Share-Kissiov (Choreografie), Andree Volkmann (Kostüme), Heike Wittlieb, Jörg Sabrowski, Michael Müller-Kasztelan, Sebastian Smulders, Maria Gulik, Xenia Cumento, Konrad Furian, Stefan Schmitz, Elisabeth Kirch, Lea Gordin, Angelika Ratej, Oliver Polenz, Gregory Antemes, Opernchor des Theaters Kiel, Philharmonisches Orchester Kiel